Verfinsterung der Sonne, Zweites und drittes Wort am Kreuz
Bis gegen 10 Uhr, das das Urteil durch Pilatus gesprochen ward, waren
abwechseln einzelne Hagelschauer gefallen, dann trat bis 12 Uhr heller Himmel
und Sonnenschein ein, und nun kam ein trüber, roter Nebel vor die Sonne. Um
die sechste Stunde aber nach der Sonne, wie ich sah um halb eins etwa, denn
die jüdische Zeit zählte anders und weicht ab von der Sonne, da entstand eine
ganz wunderbare Verfinsterung der Sonne. (….)
Es kam ein ungemeines Erschrecken über Menschen und Tiere, das Vieh brüllte
und lief von dannen, die Vögel suchten sich Schlupfwinkel und fielen
scharenweise auf die Hügel um den Kalvarienberg nieder, man konnte sie mit
Händen greifen. Die Spötter begannen zu schweigen, die Pharisäer versuchten
noch, alles natürlich zu erklären, es gelang ihnen aber schlecht, und auch sie
wurden von einer inneren Angst befallen. Alle Menschen schauten zum
Himmel empor. Viele schlugen an die Brust und rangen die Hände und schrien:
„Sein Blut komme auf seine Mörder!“  Manche in der Ferne und Nähe warfen
sich auf die Knie und baten Jesus um Verzeihung, und Jesus wendete in seinen
Schmerzen die Augen zu ihnen.
Während die Finsternis immer zunahm und alles zum Himmel schaute und das
Kreuz, außer von Jesu Mutter und nächsten Freunden, verlassen stand, richtete
Dismas, der in tiefer Reue versunken gewesen war, in demütiger Hoffnung sein
Haupt auf zu Jesus und sprach: „Herr! Lasse mich an einen Ort kommen, wo du
mich erlösen magst, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Da
sprach Jesus zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein.“  (…)
Verlassenheit Jesu . Viertes Wort Jesu am Kreuz
Auf Golgota machte die Finsternis einen wunderbar fürchterlichen Eindruck.
Das greuliche Toben und Martern, das Geschrei und die fluchende Tätigkeit
bei der Kreuzaufrichtung, die Anknebelung und das Gebrüll der beiden
Schächer, das Höhnen und Umherreiten der Pharisäer, der Wechsel der
Soldaten, das lärmende Abziehen der berauschten Henker hatte am Anfang der
Verfinsterung den Eindruck zerstreut, und dann folgte die Strafrede des
reumütigen Dismas und die Wut der Pharisäer gegen ihn. Nun aber wuchs die
Finsternis, die Zuschauer wurden ernster und vom Kreuz abgewendeter.
Da empfahl Jesus seine Mutter dem Johannes, und sie ward hierauf aus dem
Kreise hinausgebracht.
Es trat jetzt eine dumpfe Pause ein, das Volk ward bange bei der zunehmenden
Finsternis, die meisten schauten zum Himmel, in vielen regte sich das
Gewissen, manche wendeten die Augen reumütig zum Kreuz, viele schlugen an
die Brust und bereuten, die Gleichgesinnten zogen sich nach und nach
zusammen, die Pharisäer, heimlich bange, erklärten allles noch natürlich, aber
ihre Reden wurden immer kleinlauter und verstummten endlich fast ganz. Hie
und da stießen sie wohl noch ein freches Wort aus, aber es machte sich sehr
gezwungen.  Der Kern der Sonne war fahldunkel wie Berge im Mondschein,
ein roter Ring umgab sie, die Sterne traten mit rötlichem Licht hervor (…)
Um das Kreuz war es stille, alles war abgewendet, viele Leute flohen zur Stadt.
Der gekreuzigte Heiland war mit dem Gefühl der tiefsten Verlassenheit in
seiner unendlichen Marter, seine Feinde liebend und für sie betend, zu seinem
himmlischen Vater gewendet. Er betete, wie während seines ganzen Leidens,
stets in Psalmenstellen, die nun an ihm in Erfüllung traten. Ich sah
Engelsgestalten um ihn. Als die Dunkelheit aber zunahm und die Angst
drückend auf allen Gewissen und eine dumpfe Stille über allem Volk lag, sah
ich Jesus ganz einsam und trostlos hängen. Er litt alles, was ein armer,
gepeinigter, zermalmter Mensch in der größten Verlassenheit , ohne
menschlichen und göttlichen Trost leidet, wenn der Glaube, die Hoffnung, die
Liebe ganz einsam, ohne Erwiderung und Genuß, ohne alles Licht, nackt
ausgeleert in der Wüste der Prüfung stehen und mit unendlicher Marter allein
von sich selbst leben. Es ist nicht auszusprechen dieser Schmerz. In diesem
Leid errang uns der liebende Jesus die Kraft, in dem äußersten Elende der
Verlassenheit, wenn alle Bande und Beziehungen mit jenem Dasein und Leben,
jener Welt und Natur aufhören, in denen wir hienieden stehen, (…) siegreich zu
bestehen…
Und so rief er in seinem Leiden das Zeugnis seiner Verlassenheit aus und
eröffnete damit allen äußerst Bedrängten, welche Gott als ihren Vater
erkennen,  die Freiheit zu vertrauter kindlicher Klage. -  Jesus rief gegen 3 Uhr
mit lauter Stime: „Eli, Eli Lama Sabachtani!“ Das heißt: „Mein Gott! Mein Gott!
Warum hast du mich verlassen?“
Als dieser Ruf unseres Herrn die bange Stille umher unterbrach, wendeten sich
die Spötter wieder zum Kreuz, und einer sprach: „Er ruft den Elias“, ein
anderer: „Wir wollen sehen, ob Elias kommt und ihm herunterhilft.“
Die Mutter aber, da sie die Stimme ihres Sohnes hörte, konnte nichts mehr
zurückhalten, sie drang wieder zu dem Kreuz hin, und Johannes, Maria
Cleophä, Magdalena und Salome folgten ihr. (…)
Bald nach drei Uhr ward es heller, der Mond begann von der Sonne zu weichen,
und zwar nach entgegengesetzter Richtung. Die Sonne erschien strahllos,
umnebelt und rot, und der Mond sank schnell nach der entgegengesetzten
Seite, als wenn er falle. Es kehrten auch die Sonnenstrahlen nach und nach
zurück, und die Sterne verschwanden, doch war es noch immer trübe. (…)
Als es heller ward, erschien der Leib des Herrn am Kreuz bleich, schwach, wie
ganz verschmachtet und weißer als vorher, so sehr war er verblutet. Er sagte
auch, ich weiß nicht, ob betend und mir allein vernehmlich oder ob halblaut:
„Ich bin  gepreßt wie der Wein, der hier zuerst gekeltert worden, all mein Blut
muß ich geben, bis das Wasser kommt und die Hülsen weiß werden, es soll
aber kein Wein mehr hier gekeltert werden.“ (…)
Jesus war ganz verschmachtet und sprach mit vertrockneter Zunge: „Mich
dürstet“ – und da die Seinigen ihn traurig ansahen, sagte er: „Konntet ihr mir
nicht einen Trunk Wasser geben?“ Er meinte, während der Finsternis hätte sie
wohl niemand gehindert. Johannes sagte betrübt: „O Herr! Wir haben es
vergessen“, und Jesus sagte noch soviel wie: „Auch die Nächsten mußten mich
vergessen und mir keinen Trunk reichen, auf dass die Schrift erfüllt würde.“ - 
Es hatte ihm aber dieses Vergessen bitter weh getan. (….)
Da nun die Stunde des Herrn gekommen war, rang er mit dem Tode, und ein
kalter Schweiß drang aus seinen Gliedern. Johannes stand am Kreuz und
trocknete Jesu Füße mit seinem Schweißtuch. Magdalena lehnte, ganz von
Schmerz zermalmt, an der Rückseite des Kreuzes. Die heilige Jungfrau stand
zwischen Jesus und des guten Schächers Kreuz, von den Armen der Maria
Cleophä und der Salome unterstützt, und sah zu ihrem sterbenden Sohn
hinauf.
Da sprach Jesus: „Es ist vollbracht!“ und richtete das Haupt empor und rief mit
lauter Stimme: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“  Es war ein
süßer lauter Schrei, der Himmel und Erde durchdrang; dann senkte er sein
Haupt und gab seinen Geist auf, und ich sah seine Seele wie einen leuchtenden
Schatten bei dem Kreuz zur Erde hinab in den Kreis der Vorhölle fahren. –
Johannes und die heiligen Frauen sanken zur Erde auf ihr Antlitz nieder.
Abenadar, der Hauptmann, von Geburt ein Araber, als Jünger nachmals
Ktesiphon getauft, hielt, seit er Jesus mit dem Essig tränkte, auf seinem Pferd
dicht am Kreuzhügel, so daß der Vorderteil des Tieres erhöht stand. Er schaute
lange tieferschüttert, ernst, unabgewandt ins dornengekrönte Antlitz unseres
Herrn.  Des Rosses Haupt war bang und krank gesenkt, und Abenadar, dessen
Stolz sich beugte, zog auch den Zügel nicht an. Da sprach der Herr die letzten
Worte laut und kräftig und starb mit Erde, Höll‘ und Himmel laut durch-
dringenden Geschrei. Die Erde bebte, und der Fels zerbarst weit klaffend
zwischen Jesus und des linken Schächers Kreuz. Das Zeugnis Gottes ging mit
Schrecken und Schauder mahnend tief durch die trauernde Natur.
Es war vollbracht – die Seele unseres Herrn verließ den Leib, und bei dem
Todesschrei des sterbenden Erlösers erbebten alle, die es hörten, mit der Erde,
die wallend ihren Heiland anerkannte, doch die verwandten Herzen nur
durchfuhr ein scharfes Schwert des Schmerzes. Da war es, dass die Gnade über
Abenadar kam, da zitterte sein Roß und wankte seine Leidenschaft und brach
sein stolzer, harter Sinn gleich dem Kalvarifels …
Es kam ein tiefes Erschrecken über alle Anwesenden mit dem Todesschrei Jesu,
als die Erde bebte und der Keuzhügel zersprang, es war ein Schrecken, der
durch die ganze Natur ging, denn da zerriß auch der Vorhang des Tempels, da
stiegen viele Tote aus den Gräbern, das sanken die Wände im Tempel, stürzten
Berge und Gebäude in vielen Weltgegenden ein.
Abenadar rief sein Zeugnis aus, viele Soldaten zeugten mit ihm, viele aus dem
anwesenden Volk und zuletzt gekommene Pharisäern bekehrten sich. Viele
schlugen an die Brust, wehklagten und irrten vom Berg durch das Tal nach
Hause. Andere zerrissen ihre Kleider und streuten Staub auf ihr Haupt. Alles
war voll Furcht und Schrecken.“
Quelle: Anna Katharina Emmerich, „Das bittere Leiden unseres
                   Herrn Jesus Christus“, S.262 ff.