Politik muss Zukunft ermöglichen
Auch nach 20 Jahren lässt mich Politik nicht kalt, sondern bin ich mit der
gleichen Leidenschaft bei der Sache wie in den Anfangsjahren. Es freut mich,
wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Begeisterung für Politik an andere
weitergeben kann. Ich tue das, wo immer ich kann: in Gesprächen mit den
vielen Besucherinnen und Besuchern des Parlamentsgebäudes, bei Diskus-
sionen außer Haus, bei Veranstaltungen und Begegnungen in den Bundes-
ländern.
“Das zentrale Ziel muss nach meinem Verständnis von Politik immer eine
gerechtere Gesellschaft sein.”
Eine faire Gesellschaft, die allen Chancen eröffnet. Eine soziale Gesellschaft,
die auf Schwächere schaut, in der nicht Egoismus und Rücksichtslosigkeit
dominieren. Eine verlässliche Gesellschaft, in der gleiches Recht für alle gilt
und durchgesetzt wird. Eine solche Gesellschaft kann nicht mit einigen
wenigen Maßnahmen erreicht werden, vielmehr muss die gesamte Politik
danach ausgerichtet sein.
Ich maße mir selbstverständlich nicht an, die alleinige Wahrheit zu besitzen
und auf alle Fragen eine Antwort parat zu haben. Auch mag ich nicht in abso-
luten Kategorien denken. Die Gesellschaft ist bunt und vielfältig, Bedürfnisse,
Wahrnehmungen, Werthaltungen der Menschen sind verschieden – aus allem
zusammen muss sich politisches Handeln ableiten.
Letztendlich liegt der Schlüssel zu einer gerechteren, demokratischen Gesell-
schaft in einer echten Partnerschaft zwischen Männern und Frauen. Das macht
den Kampf um Gleichberechtigung so wichtig und weiterhin unverzichtbar.
Darüber hinaus gilt es die so genannte Zivilgesellschaft anzusprechen. Ich
möchte deshalb Lust machen auf Diskurs, auf die Auseinandersetzung mit den
zentralen Fragen der Zeit, auf die Teilnahme an demokratischer Meinungs-
bildung. Dazu braucht es allerdings mutige, auch unkonventionelle Vorschläge,
die nicht reflexartig abgelehnt werden dürfen. Wer absolute Wahrheit aus-
schließe, so der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, müsse nicht nur die
eigene, sondern auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich
halten.
Es freut mich jedes Mal, wenn ich das Gefühl habe, dass ich Interesse an der
Demokratie wecken konnte. Hingegen schmerzt es mich, wenn Politik an
Menschen spurlos vorübergeht, von ihnen nicht wahrgenommen wird. Oder
wenn sie sogar betonen und geradezu stolz darauf sind, dass Politik sie nicht
interessiere. Das ist gesellschaftliche Realität, die ich so nicht hinnehmen will.
Daran zu arbeiten muss unser aller Auftrag sein. Wir müssen diesen Menschen
vermitteln, dass das ihr Leben ist, ihre Gegenwart, ihre Zukunft, die von der
Politik gestaltet wird.
Wir müssen sie zur aktiven Mitgestaltung motivieren, damit sie Anteil nehmen,
mitreden, sich einmischen – und sei es aus Unzufriedenheit oder aus Wut
heraus. Wir müssen vor allem die Frustrierten wieder mehr hereinholen in den
demokratischen Prozess, sie wenigstens ein kleines Stück weit mitnehmen.
Und beginnen müssen wir dabei mit der Jugend.
Politik, wie ich sie verstehe, muss vieles leisten, vor allem jedoch Zukunft
ermöglichen. Sie muss die Gegenwart meistern, indem sie sich den aktuellen
Herausforderungen und Problemen stellt. Nur für den Moment zu handeln,
wäre zu wenig, erst recht, sich ausschließlich an der Vergangenheit zu
orientieren. Politik, die sich nur mit dem Jetzt beschäftigt oder gar im Gestern
verharrt, greift mit Sicherheit zu kurz.
Kontinuität ist zweifellos ein wichtiges Motiv für politisches Handeln. Sie steht
für Verlässlichkeit, ist die Antithese zu Beliebigkeit und Sprunghaftigkeit. Das
heißt, dass Politik auf Erfahrungen und Errungenschaften, auf die eigene
Geschichte und auf Traditionen aufbauen muss, um daraus freilich Lösungen
für heute und Pläne für die Zukunft zu entwerfen.
Eine sich ständig verändernde Welt verlangt immer neue politische Antworten,
den Willen zu permanenter Weiterentwicklung. Das schließt die Bereitschaft
zum Unpopulären ein: Was als notwendig erkannt wird, ist anzugehen, auch
auf die Gefahr hin, nicht auf mehrheitliche Zustimmung zu stoßen. Diese
Courage ist uns abzuverlangen. Wobei das Risiko meiner Erfahrung nach
kalkulierbar ist. Die Bürgerinnen und Bürger sind sehr wohl bereit, auch
unangenehme, schmerzhafte Entscheidungen und Maßnahmen mitzutragen –
vorausgesetzt, sie sind gut begründet, nachvollziehbar und vor allem gerecht.
Präsidentin des Österreichischen Nationalrates
Quelle: http://www.barbara-prammer.at/?page_id=243