“Bereits vor der formalen Auflösung der Sowjetunion rissen sich viele, die
an den Schalthebeln der Macht saßen, den Reichtum des Landes unter den
Nagel. Es fiel buchstäblich unter die Räuber.
Was sich im 19.Jahrhundert über Jahrzehnte hinzog, jene “ursprüngliche
Akkumulation des Kapitals”, wie Marx dies nannte, geschah in wenigen
Jahren, aber wohl mit noch größerer Brutalität und kriminellen Energie als
seinerzeit. Es herrscht Goldgräberstimmung auch in der Ukraine.
Verbrechersyndikate bemächtigen sich der Wirtschaft und der Politik,
findige Geschäfts-leute häuften gewaltige Vermögen an.
Offiziell wird diese Gesellschaft der Durchsetzungsfähigsten,
Gewissenlosesten und Erfolgreichsten als Neue Ökonomische Elite
bezeichnet, aber im alltä-glichen Sprachgebrauch heißen sie schlicht
Oligarchen. Wie wird man Oligarch?
Zum Beispiel, indem man Metalle auf dem einheimischen Markt zu subven-
tionierten, also niedrigen Preisen einkauft und anschließend auf dem Welt-
markt zum üblichen Weltmarktpreis weiterverkauft; die Gewinnspanne kann
bis zu 900 Prozent betragen.
Oder indem man den Russen billiges Erdgas abnimmt und dann dreimal so
teuer an die eigenen Landsleute verkauft, am besten, damit keiner was merkt,
über Tarnfirmen im Ausland - so macht es Julija Timoschenko (die in
diesem Stück die Unschuld vom Lande spielt).
Vorher muss man sich allerdings staatliche Exklusivrechte im Energiesektor
sichern, um zum Alleinversorger in einer Region aufzusteigen und die Preise
diktieren zu können.  Monopole sind sowieso die ergiebigste Geldquelle, und
auf diesem Gebiet empfiehlt sich die Gasversorgung als lukrativstes
Betätigungsfeld.
Russisches Importgas deckt 50 Prozent des enormen Energiebedarfs der
Ukraine, und wer hier eine regionale Monopolstellung erkämpft und sich
dabei nicht scheut, auch über Leichen zu gehen, der hat die Chance, nach
und nach die gesamte Industrie seines Versorgungsgebietes unter Kontrolle
zu bringen.
Denn Unternehmen, die mit den hohen Energiepreisen überfordert sind,
stellen Schuldscheine aus, und wenn die nicht zurückgekauft werden können,
fällt der ganze Betrieb an den Gläubiger.
Auf diese Art kann sich eine Gasgesellschaft mal eben um ein Röhrenwerk,
eine Metallhütte, einen Rüstungsbetrieb, vielleicht auch um eine Bank und
einen Fernsehsender erweitern.
So kommt es, dass sich Einzelne in kurzer Zeit riesige branchenüber-
greifende Wirtschaftsimperien aufbauen, und die Ukrainer werden zu
Zeugen abenteuerlicher Karrieren - wie der eines Igor Bakai, um nur einen
bekannten Namen zu nennen. (...)
Dies alles ist nicht legal, aber das macht nichts. Das Raubritterzeitalter, in
das die Ukraine Anfang der 90er Jahre eintritt, kennt kein Gesetz. Wer
Beziehungen hat, kommt billig an die lukrativsten Objekte, und niemand
verbietet, öffentliches Vermögen für private Zwecke beiseite zu schaffen.
Man nennt das Privatisierung, und es gibt viel zu privatisieren.
Im Osten des Landes zum Beispiel eine bedeutende Schwerindustrie, sodann
Rüstungsbetriebe und Werke der chemischen wie der optischen Industrie und
eben des Energiesektors, die stärkste Säule der ukrainischen Wirtschaft.
Gelegentlich kommt es zu Auseinandersetzungen um die einträglichsten
Pfründe, dann gehen sich die Oligarchen gegenseitig an die Kehle, werden
Morde in Auftrag gegeben. Aber auch das fällt unter freies Unternehmertum.
Natürlich wären solche Geschäftspraktiken nicht möglich ohne politische
Rückendeckung. Wobei auch die Politik vom Wohlwollen der Oligarchen
abhängt. Alles funktioniert nach dem Prinzip: Eine Hand wäscht die andere.
Im Grunde ist das Ganze ein einziger Filz. Die Oligarchen finanzieren den
Wahlkampf ihrer Kanditaten, sorgen in ihrem Einflussbereich für das
erwünschte Wahlergebenis, und der Präsident breitet seine schützende und
segnende Hände über sie. Loyale Unternehmer dürfen jederzeit mit einer
Vorzugsbehandlung rechnen. Der Mann, der dieses System perfektionierte,
heißt Leonid Kutschma (Anm: ukrainischer Präsident von 1994 - 2004) (...)
Seine Herrschaft beruht auf der Idee einer denkbar engen Verquickung von
Wirtschaft und Politik. Dazu bedient er sich regionaler Seilschaften, das
heißt, er umgibt sich mit Verbindungsleuten, die in ständigem Kontakt mit
den wichtigsten Oligarchen stehen.
Diese sogenannten regionalen Vertreter erhalten politische Ämter in Kiew,
von wo aus sie die Unternehmen begünstigen, denen sie verbunden sind; im
Gegenzug werden die Politiker am Gewinn der Unternehmen beteiligt.
Der beliebteste Posten ist der eines Persönlichen Beraters des Präsidenten.
Dort gilt die Faustregel: je größer die Nähe zum Präsidenten, umso lukrativer
der Job. Ein weiterer Vorteil eines politischen Amtes: Es gewährt Immunität
und schützt vor Strafverfolgung, zum Beispiel wegen Korruption. Dem
Untergang eines Unternehmens geht darum meist auch das Ende der
politischen Karriere seines Patrons voraus.”
 Quelle: Leo G.Lindner, “Die Klitschkos”,
             2013 Verlag Neues Leben, S.79ff.