Was sagt das Völkerrecht zum Wirtschaftsboykott, zur politischen
Einmischung und zu den Drohkulissen gegen Maduro?
Völkerrechts-Professoren erklären, dass ein militärisches Eingreifen der USA
gegen die UN-Charta verstoßen würde. Im Zentrum steht beim Internationalen
Völkerrecht das in der UN-Charta verankerte Verbot der Gewaltanwendung.
Dazu gehören auch einseitige Wirtschaftssanktionen. Werden jedoch solche
von der UNO beschlossen, sind alle Staaten, die UNO-Mitglied sind, dazu ver-
pflichtet, diese Sanktionen umzusetzen.
Das UNO-Verbot von Kriegen
Die Charta der UNO hat das Gewaltverbot in Artikel 2 verankert:
"Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede ...
Androhung oder Anwendung von Gewalt."
Zu diesem Kriegsverbot sieht die Charta nur zwei Ausnahmen vor:
1. Das Recht auf Selbstverteidigung, wenn ein Land angegriffen wird.
2. Wenn der UN-Sicherheitsrat mit einem Mandat den Krieg gegen ein Land
beschließt. Dies kann der Sicherheitsrat auch dann tun, wenn eine Regierung
die Bevölkerung im eigenen Land nicht schützt vor Genozid, Kriegsverbrechen,
ethnischen Säuberungen oder schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit
(Responsibility to Protect)
Das zweite grundlegende UN-Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Staaten bezweckt insbesondere, dass Großmächte
innere Unruhen oder selbst Bürgerkriege in Drittstaaten nicht dazu nutzen, sich
einzumischen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Einmischungen in Venezuela
Die antikapitalistischen Regierungen von Hugo Chávez und Nicolás Maduro
verspekulierten sich mit einem fallenden Ölpreis – 90 Prozent der Exportein-
nahmen kommen von Ölexporten – und wirtschafteten das Land durch Klientel-
politik und Bereicherung des Machtklüngels herunter. Einseitige US-Sankti-
onen gaben der stark geschwächten Wirtschaft den Rest und führten das Land
in die Abhängigkeit Russlands. Weite Teile der Bevölkerung leiden unter einer
verheerenden Hyperinflation. Sie führte zu leeren Geschäften, verbreiteter Ar-
mut und zur Auswanderung von zehn Prozent der 32 Millionen Einwohner.
Politisch trat insbesondere Maduro die demokratischen Institutionen mit
Füßen. Der selbsternannte Präsident Juan Guaidó bezeichnete am 1. Februar in
der New York Times die jüngste Wiederwahl von Maduro zum Präsidenten als
illegal, und er bezifferte die Zahl der politischen Gefangenen mit 600.
Aus diesem "sozialistischen Gefängnis", das Unterdrückung, Armut und
Misere beschert habe, müsse man das venezolanische Volk befreien, fordert
etwa Publizistik-Leiter Pascal Hollenstein in der Schweiz am Wochenende und
der Ostschweiz am Sonntag.
Eine zentrale Frage und weitere Fragen
Hollenstein beantwortet jedoch eine zentrale Frage nicht: Wann ist es legitim
oder sogar völkerrechtlich gefordert, dass die USA (oder Russland oder China)
ein Drittland mit einem faktischen Wirtschaftsboykott ausbluten, Milliardengut-
haben dieser Regierung bzw. dieses Staates im Ausland blockieren, Neuwah-
len fordern, einen Oppositionellen als neuen Regierungschef anerkennen und
ihm finanziell, logistisch und allenfalls auch militärisch zur Macht verhelfen?
Laut UN-Charta dürften die USA, Russland oder China gegen ein Land nur
dann wirtschaftliche oder militärische Gewalt anwenden, wenn der Sicher-
heitsrat eine solche Intervention einstimmig beschließt, weil eine Regierung die
Bevölkerung im eigenen Land nicht schützt vor Genozid, Kriegsverbrechen,
ethnischen Säuberungen oder schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Fall von Venezuela wird der Sicherheitsrat für eine ausländische Inter-
vention kein grünes Licht geben, weil Russland und China einen solchen
Beschluss mit einem Veto verhindern würden. Es stellt sich jedoch die Frage,
ob die wirtschaftliche, soziale, politische und menschenrechtliche Lage in
Venezuela einen solchen Beschluss des Sicherheitsrats überhaupt
rechtfertigen würde.
Kam es zu einem Genozid? Zu Kriegsverbrechen? Zu ethnischen
Säuberungen? Zu schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Ob wenigstens eine dieser Voraussetzungen für eine Einmischung der Groß-
mächte und des UN-Sicherheitsrats erfüllt ist, darüber sollten die Medien
möglichst faktenbasiert informieren.
In seinem Leitartikel in der New York Times vom 1. Februar 2019 stützt sich der
selbsternannte Präsident Juan Guaidó auf keine dieser Interventionsbedin-
gungen. Was er geltend macht sind vielmehr Verletzungen der venezolani-
schen Verfassung ("gesetzwidrige Wahl Präsident Maduros am 20. Mai 2018"),
eine humanitäre Krise wegen mangelnder Lebensmittel und medizinischer
Versorgung, den Exodus von drei Millionen Einwohnern sowie 600 politische
Gefangene.
Dazu stellen sich weitere Fragen:
•Welche andere Länder könnten oder dürften die USA (oder auch Russland
oder China) ebenfalls mit wirtschaftlichen Sanktionen unter Druck setzen? In
welchen andern Ländern ebenfalls Oppositionsgruppen anerkennen und unter-
stützen? Wo könnten oder müssten sie ebenfalls eingreifen, um das wirtschaft-
liche und politische Schicksal der Bevölkerungen zu verbessern? Im Kongo
nach dem jüngsten, krassen Wahlbetrug, in Ruanda, der Zentralafrikanischen
Republik, Sambia, Zimbabwe, Nigeria, Bangladesch, Iran, Saudi-Arabien,
Ägypten (mit rund 60.000 politischen Gefangenen, im Verhältnis zur Bevöl-
kerung 30x mehr als in Venezuela)?
- Verstießen die Großmachts-Interventionen in Kosovo, Libyen, Afghanistan,
Irak, Syrien, Krim, Ostukraine alle gegen das Völkerrecht und die UN-Charta?
- Welche Rolle spielten und spielen bei den Einmischungen in Libyen, Irak und
Venezuela die großen Erdölvorkommen?
- Aufgrund welcher völkerrechtlichen Rechtsgrundlage fordern EU-Staaten
ultimativ, mit Drohung von Konsequenzen, Wahlen in einem fremden Land?
Zur letzten Frage: Venezuela hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte (ICCPR) unterschrieben. Deshalb seien freie und faire Wah-
len keine rein "innere" Angelegenheit mehr, sagt der Hamburger Völkerrechts-
Professor Stefan Oeter. Vertragspartner müssten deshalb Präsident Maduro
nicht als Präsidenten anerkennen. Allerdings sieht der ICCPR eine solche
Sanktion nicht vor, sondern vielmehr ein Staatenbeschwerdeverfahren. Der
ICCPR hat nichts mit dem klassischen Völkerrecht und der UN-Charta zu tun.
Folgenschwere Anerkennung von Juan Guaidó als Präsidenten:
Nur eine Stunde nachdem sich Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Präsi-
denten ernannte, anerkannten ihn die USA als einzig legitimen Präsidenten
Venezuelas und forderten südamerikanische und europäische Staaten auf, das
Gleiche zu tun.
Die Schweiz anerkennt laut EDA wie viele andere Staaten grundsätzlich keine
Regierungen an, sondern nur Staaten. Regierungen können wechseln, ein
Staat bleibt ein Staat.
Allerdings habe auch die Schweiz schon Regierungen aberkannt, obwohl diese
die Herrschaft noch effektiv ausübten, aber ihre Legitimität verloren haben, wie
zum Beispiel im Laufe der Nelkenrevolution 1974 in Portugal. Darauf macht der
emeritierte St. Galler Völkerrechts-Professor Rainer J. Schweizer aufmerksam.
Er meint deshalb, dass auch die Schweiz Guaidó bald als Präsidenten aner-
kennen könnte, sobald die Mehrheit der EU-Staaten dies gemacht haben.
Es erstaunt trotzdem, wie viele Medien die Anerkennung Guaidós als Präsi-
denten als etwas Normales darstellten. Die SRF-Tagesschau berichtete mehr-
mals, selbst das EU-Parlament habe Guaidó als Präsidenten anerkannt. Die
Tagesschau erwähnte nicht, dass das Parlament juristisch gar keine Legiti-
mation hat, Regierungen oder Staaten anzuerkennen. Es handelte sich um 
eine rein politische Resolution.
Immerhin befragte SRF-online als weit und breit einziges Medium einen Pro-
fessor für Völkerrecht dazu. Oliver Diggelmann der Universität Zürich klärte
auf, Staaten könnten "grundsätzlich" nur eine Regierung anerkennen, die
"effektiv die Macht im Staat innehat". Das Gleiche hatte Christine Kaufmann
betont, bis Ende 2018 Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich:
"Eine Regierung muss sich durchgesetzt haben", bevor man sie anerkennen
könne.
In der Geschichte habe es jedoch schon Fälle gegeben, bei denen "Regier-
ungen", die keine effektive Macht ausübten, anerkannt wurden, sagte Pro-
fessor Diggelmann: In Haiti 1994, in Sierra Leone 1997, in Gambia 2017 sowie
Libyen die Anerkennung von Aufständischen, als Ghadaffi noch an der Macht
war.
Das Anerkennen beziehungsweise Nicht-Anerkennen von Regierungen werde
"sehr selektiv" vorgenommen, räumte Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht
an der Universität Hamburg gegenüber Infosperber ein: "In den meisten Fällen
von unzweifelhaft effektiven Regierungen mit dubioser Legitimation vermeidet
man es, Fragen der Legitimation zu stellen."
Das Anerkennen von "Regierungen" oder "Präsidenten", welche keine effektive
Macht im Land ausüben, kann allerdings einschneidende Folgen haben. Eine
anerkannte Regierung könne nicht nur Zugriff auf Staatsgelder im Ausland er-
langen, sondern auch das Eingreifen ausländischer Mächte autorisieren, er-
klärte Professor Oliver Diggelmann. Falls Guaidó die USA zu Hilfe rufe, könn-
ten diese selbst ein militärisches Eingreifen völkerrechtlich mit dem Hilferuf
legitimieren. [So wie Russland und Iran ihre Interventionen in Syrien mit dem
Hilferuf Assads völkerrechtlich legitimieren.]
Diggelmann über das Anerkennen Guaidós als Interimspräsidenten: "Es
handelte sich um eine außerordentlich aggressive Anerkennung. Der Gedanke,
dass am Ende eine militärische Intervention der USA stehen könnte, scheint
mir nicht aus der Luft gegriffen."
Bis jetzt hat Guaidó nur Hilfslieferungen aus dem Ausland angefordert. Den
Flüchtlingen und Hungernden in Venezuela und den Nachbarstaaten ohne
Militäreinsatz diplomatisch und wirtschaftlich zu helfen, sei "angesichts des
enormen Ausmaßes der wirtschaftlichen Not und der Repression ein Gebot der
völker- und menschenrechtlichen Schutzpflichten", erklärt Völkerrechts-Pro-
fessor Rainer J. Schweizer.
Dagegen sei der Zugriff der USA auf die venezolanische Ölfirma und die Block-
ade des Ölverkaufs durch die USA als Druckmittel gegen die Regierung Madu-
ro "wohl als völkerrechtlich unzulässige Intervention anzusehen".
Gleicher Ansicht ist der Hamburger Völkerrechts-Professor Stefan Oeter: "Ge-
genüber 'illegitimen', also durch Rechtsbruch ans Ruder gekommenen Regier-
ungen, können im Grundsatz durchaus Wirtschaftssanktionen verhängt wer-
den. Tabu ist dagegen der Einsatz militärischer Gewalt gegen derartige Regier-
ungen; militärische Zwangsmaßnahmen könnte allenfalls der UN-Sicherheitsrat
anordnen." Voraussetzungen für einen solchen Beschluss des Sicherheitsrats
wären Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen oder schwere Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit. Nur dann käme die Responsibility to Pro-
tect zum Zug.
"Kalte Krieger sind zurück"
In der New York Times meldete sich Geschichtsprofessor Patrick Iber der
Wisconsin-Universität in Madison zu Wort: "Wie schlimm Maduro auch ist, die
USA sind kein vertrauenswürdiger Partner, um einen 'Regime Change' zu
forcieren." Im Laufe des 20. Jahrhunderts hätten sich die USA immer wieder in
die inneren Angelegenheiten südamerikanischer Staaten eingemischt, weil sie
Südamerika als ihr geopolitisches Hinterland betrachteten. Er erinnerte an
Guatemala, Brasilien oder Chile. Dort hätten die USA Militärdiktatoren an die
Macht gebracht und sich um das Schicksal der Bevölkerungen foutiert.
Für Iber sind heute die "Kalten Krieger wieder zurück". Führende Köpfe der US-
Politik gegenüber Venezuela seien John R. Bolton, ein glühender Befürworter
des Kriegs in Irak. Im Fernsehen forderte Bolton Präsident Maduro auf, "sich
an einen schönen, ruhigen Strand weit weg von Venezuela zurückzuziehen,
sonst landet er am Strand von Guantanamo". Im TV-Kanal FoxBusiness (ab
Minute 5.58) erklärte Bolton: "Für die USA wäre es von großem Vorteil, wenn
US-Ölkonzerne in Venezuela investieren und produzieren könnten. Das wäre
gut für die Bevölkerungen sowohl in Venezuela als auch in den USA” (Präsi-
dent Trumps Sicherheitsberater John R. Bolton im Interview von TV "Vox
Business")
Als speziellen Beauftragten für die "Wiedereinführung der Demokratie in Vene-
zuela" ernannte das Weiße Haus ausgerechnet Elliott Abrams, der während der
Reagan-Administration Menschenrechtsverletzungen der USA in El Salvador
rechtfertigte. Er setzte sich für Militärhilfe an Diktator Ríos Montt in Guatemala
ein. Zur gleichen Zeit finanzierte er unter Umgehung des Weißen Hauses Waf-
fenlieferungen an die Contra-Rebellen in Nicaragua. Wegen Belügen des Kon-
gresses wurde er verurteilt. Abrams gehörte ebenfalls zu den vehementesten
Verfechtern des US-Einmarsches in Irak.
Als Dritter gehört US-Staatssekretär Mike Pompeo zu den "Kalten Kriegern".
Als früherer CIA-Direktor war er maßgeblich für den Irak-Krieg verantwortlich.
Erfolgreich setzte er sich für die Kündigung des Atomvertrags mit dem Iran ein.
16.3.2019
Quelle und gesamter Artikel siehe https://amerika21.de/analyse/221852/venezuela-medien-
voelkerrecht  (Der Beitrag ist zuerst am 5. Februar 2019 bei der Plattform Infosperber.ch erschienen)