Zu Breschnews Zeiten, da überall Mangel herrschte, maß sich der
Wohlstand einer Sowjetrepublik daran, wie gut sich die Bevölkerung
ernährte. Die Ukraine mit ihrer einzigartigen Schwarzerde, ihrem milden
Klima und einer trotz gnadenloser Vernichtung in den Dreißigerjahren
starken Bauernschaft war eine der Unionsrepubliken, wo es der Bevölkerung
am besten ging.
Der materielle Wohlstand wurde als ein Hauptargument für die
Unabhängigkeit ins Feld geführt. Die überzeugten Nationalisten erklärten
ihren zweifelnden Mitbürgern vor dem Referendum, die Ukraine produziere
1000 Kilogramm Weizen pro Kopf und Jahr, verbrauche aber nur 140
Kilogramm. Daraus konnte jeder nur die Schlussfolgerung ziehen: Die
Unabhängigkeit versprach dem Land Reichtum und Wohlstand.
Als aber die UdSSR zerfiel, mussten die Ukrainer ganz andere Zahlen zur
Kenntnis nehmen. So benötigte das Land 20-mal mehr Erdöl, als es selbst
förderte. Die Industriegiganten der Metallurgie, der Chemie und des
Maschinenbaus in ihrer Ostregion sind wahre Energiefresser, die ohne
billiges russisches Erdöl und Erdgas nicht überleben können.
Die politische Unabhängigkeit brachte der Ukraine den Zusammenbruch
ihrer Wirtschaft. Zwischen 1990 und 1993 sank die Produktion der
Metallurgie, zu der in der Ukraine 270 Betriebe gehören, um ein Drittel. Die
Chemiewerke standen still, weil 80 Prozent ihrer Rohstoffe aus den
Republiken der ehemaligen UdSSR kamen. Wohnungs- und Industriebau
stellten ihre Tätigkeit ein. Eine Leichtindustrie gab es bald nicht mehr. (....)
Das zentrale Problem war der Verlust der Energiequellen, die nun in
Russland lagen. Die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas sollte auf
Jahre hinaus zum Symbol der nationalen Tragödie der Ukraine und zur
Ursache demütiger politischer Reverenzen aller ukrainischen Regierungen
vor dem Kreml werden. Zugleich brachte sie Geschäftsideen hervor, die
märchenhafte Gewinne versprachen. Die Tatsache, dass zwischen den beiden
Schwesternrepubliken plötzlich eine Staatsgrenze lag, die Öl- und
Gasleitungen durchschnitt, wurde zum Klondike, das bei den
Geschäftsleuten hüben und drüben einen wahren Goldrausch auslöste.”
Quelle: Dmitri Popov/Ilia Milstein, “Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie”,
            2012 Redline Verlag, S.66ff.