Nach dem Verlust ihres Regierungsamtes wurden gegen Tymoschenko – wie auch
gegen Mitglieder ihres Kabinetts – mehrere Strafverfahren eingeleitet: Ab Mai
2010 ermittelte die Staatsanwaltschaft erneut wegen des alten Verdachts, sie habe
im Jahr 2003 versucht, Richter des Obersten Gerichtshofs der Ukraine zu
bestechen.
Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs
Ein zweites Verfahren wurde nach Veröffentlichung eines Berichts von US-
amerikanischen Anwaltsfirmen eingeleitet. Sie hatten die zweite Regierungszeit
Tymoschenkos untersucht und Hinweise auf den Missbrauch öffentlicher Gelder,
Betrug und Geldwäsche durch Beamte, mehrere Ministerien und private
Unternehmen festgehalten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte in drei
Angelegenheiten:
1.
die zweckfremde Verwendung von Einnahmen aus dem Handel mit
Kohlendioxid-Rechten,
2.
der Kauf von Rettungswagen zu überhöhten Preisen,
3.
Amtsmissbrauch bei der Aushandlung von Verträgen über die Lieferung von
Erdgas mit Russland.
Eine offizielle Anklage erfolgte am 20. Dezember 2010 mit dem Vorwurf der
Veruntreuung von Staatsgeldern, am 24. Mai 2011 folgte eine weitere, lautend auf
mutmaßlichen Amtsmissbrauch.
Tymoschenko bezeichnete die Verfahren gegen sie und mehrere ihrer früheren
Minister als Versuch der Regierung, die Opposition zu „enthaupten“.
Ende Juni 2011 reichte sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Beschwerde gegen ihre Strafverfolgung ein, diese Beschwerde wurde später auf
die Haftbedingungen und die ihrer Ansicht nach ungenügende medizinische
Versorgung in der Strafanstalt erweitert.
Im Zuge der Verhandlungen wegen Amtsmissbrauchs vor einem Kiewer
Stadtgericht ließ der 31-jährige Richter Rodion Kirejew Tymoschenko am 5.
August 2011 in Untersuchungshaft nehmen, nachdem die Staatsanwaltschaft dies
während des Prozesses beantragt hatte. Zuvor hatte das Gericht die
Untersuchungshaft noch abgelehnt.
Tymoschenko erkannte den Prozess nicht an und hatte Richter Kirejew u.a. als
„Marionette“ bezeichnet. Kurz nach Anordnung der Untersuchungshaft kam es zu
Handgreiflichkeiten im Gerichtssaal. Die Festnahme Tymoschenkos wurde von
Vertretern der Europäischen Union scharf kritisiert. Sowohl die EU wie auch die
USA kritisierten das Strafverfahren als politisch motiviert und warnten die Ukraine
vor internationaler Isolation.
Staatsanwaltschaft beantragte am 27. September 2011 eine Haftstrafe von sieben
Jahren wegen Amtsmissbrauchs. Die Verteidigung verlangte einen Freispruch.
Am 11. Oktober 2011 wurde Tymoschenko schuldig gesprochen und zu einer
siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass
Tymoschenko 2009 mit Russland Verträge über die Lieferung von Erdgas zum
Nachteil der Ukraine abgeschlossen hatte. Dadurch habe die Ukraine einen
Schaden von umgerechnet rund 137 Millionen Euro erlitten. Außerdem muss sie
Schadenersatz über 137 Millionen Euro leisten und darf im Anschluss an die
Haftstrafe drei Jahre lang keine öffentlichen Ämter ausüben. Tymoschenko
kündigte umgehend Berufung an.
Die EU, Russland und Deutschland kritisierten das Urteil scharf, europäische
Medien ebenso. Dem ukrainischen Präsidenten Janukowytsch wurde im
Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen Tymoschenko und ihrer
Inhaftierung und Verurteilung wiederholt vorgeworfen, direkten Einfluss auf die
Justiz auszuüben und seine stärkste politische Gegnerin mit Hilfe dieses
Strafverfahrens ausschalten zu wollen. Janukowytsch erklärte hingegen, die Justiz
der Ukraine sei unabhängig und er wolle nicht in den Prozess gegen Tymoschenko
eingreifen.
Im Dezember 2011 wurde die Unterzeichnung des bereits ausgehandelten
Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU auch wegen der
andauernden Inhaftierung von Tymoschenko auf unbestimmte Zeit verschoben.
Nur wenige Tage nach der Verurteilung durch das Kiewer Stadtgericht wurde
bekannt, dass gegen Tymoschenko wegen Verdachts auf Veruntreuung von 295
Millionen Euro in ihrer Zeit als Chefin des Energiekonzerns EESU (1995 bis 1997)
ermittelt wird.
Wenige Wochen später verkündete die Generalstaatsanwaltschaft, es gebe
Hinweise auf eine Verwicklung Tymoschenkos in den Mord am Abgeordneten und
Geschäftsmann Jewhen Schtscherban im Jahre 1996, weswegen weitere
Ermittlungen aufgenommen wurden. In den Mord soll außerdem ihr einstiger
politischer Ziehvater Pawlo Lasarenko involviert sein, der bis November 2012 in
den USA eine langjährige Gefängnisstrafe wegen Betrug und Geldwäsche
verbüßte.
Das Berufungsverfahren gegen Tymoschenko begann am 13. Dezember 2011. Aus
gesundheitlichen Gründen nahm sie nicht persönlich an der Verhandlung teil. Am
23. Dezember 2011 bestätigte das Berufungsgericht die siebenjährige Haftstrafe.
Tymoschenko verzichtete darauf das ukrainische Kassationsgericht anzurufen.
Ende Dezember 2011 wurde Tymoschenko vom Untersuchungsgefängnis
Lukjaniwska in die Frauenstrafanstalt Nr. 54 Katschanowka im Norden der
ostukrainischen Stadt Charkiw zur Verbüßung ihrer Haftstrafe verlegt.
Ihr Ehemann Olexandr Tymoschenko reiste im Januar 2012 nach Tschechien aus
und erhielt dort politisches Asyl.
Kritik an Haftbedingungen und gesundheitliche Probleme
Seit Beginn des Jahres 2012 kam es wiederholt zu öffentlichen Auseinander-
setzungen über den Gesundheitszustand von Tymoschenko.
Ihre Tochter Jewhenija erklärte, ihre Mutter müsse wegen eines schweren Band-
scheibenvorfalls, der permanent schwere Schmerzen verursache, möglicherweise
operiert werden und es bestehe der Verdacht auf einen Leistenbruch. Eine ange-
messene medizinische Versorgung in der Haft werde ihr aber von den ukrainischen
Behörden vorenthalten.
In diesem Zusammenhang erfolgte im Februar 2012 eine medizinische Unter-
suchung von Tymoschenko durch kanadische und deutsche Ärzte und im April
2012 eine weitere Untersuchung durch zwei deutsche Ärzte.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden zunächst mit Rücksicht auf die
ärztliche Schweigepflicht nicht veröffentlicht, eine Sprecherin der Berliner Charité
sprach allerdings von einer bei Tymoschenko festgestellten „ernsthaften
Erkrankung“, die eine stationäre Behandlung möglichst außerhalb der Strafanstalt
erfordere. Auch sei Tymoschenko, bedingt durch ihre Krankheit, aktuell nicht
verhandlungsfähig.
Der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, Markus Löning,
erklärte in diesem Zusammenhang, in der Ukraine würden sowohl Tymoschenko
wie auch anderen inhaftierten Politikern gesundheitliche Vorsorge und Behandlung
vorenthalten.
Im März 2012 forderte die weiterhin inhaftierte Tymoschenko, dass sie in der
Charité in Berlin medizinisch behandelt werde. Eine Behandlung durch
ukrainische Ärzte in der Haft lehnte sie aus Angst vor einer absichtlich
herbeigeführten Hepatitis-Infektion ab.
Medienberichten zufolge führte die deutsche Bundesregierung in diesem
Zusammenhang Gespräche mit der Regierung der Ukraine mit dem Ziel,
Tymoschenko eine medizinische Behandlung in Deutschland zu ermöglichen.
Am 26. April 2012 erklärte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, die
deutsche Seite habe der ukrainischen Regierung wiederholt angeboten,
Tymoschenko in Deutschland medizinisch zu behandeln.
Anfang Mai 2012 erklärten die 27 Mitglieder der EU-Kommission um
Kommissionspräsident José Manuel Barroso nicht zu den Spielen der Fußball-
Europameisterschaft in die Ukraine zu reisen. Damit wolle man gegen die Politik
des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch sowie gegen den Umgang mit
der inhaftierten Tymoschenko protestieren. Diesem Protest, bei dem es sich aus-
drücklich um keinen „Boykott“ der EM handle, schloss sich EU-Ratspräsident
Herman Van Rompuy an.
Zweiter Strafprozess wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung, weitere
Kritik an Haftbedingungen und Fortsetzung des Hungerstreiks
Am 19. April 2012 begann ein weiterer Strafprozess gegen Tymoschenko in
Charkiw. In diesem Verfahren wird ihr Steuerhinterziehung und Veruntreuung
vorgeworfen, sie blieb der Gerichtsverhandlung aufgrund ihrer Erkrankung fern.
Vom 20. April bis zum 9. Mai 2012 trat Tymoschenko aus Protest gegen ihre
Haftbedingungen in einen Hungerstreik. Vorangegangen war ein durch das
Gefängnispersonal erzwungener Transport in eine Klinik. Nach Angaben ihres
Verteidigers sei sie bei diesem Transport auch geschlagen worden. Der für
Tymoschenko zuständige Gefängnisdienst der Stadt Charkiw dementierte diese
Angaben.
Am 8. Mai 2012 bot Ministerpräsident Mykola Asarow Hafterleichterungen für
Tymoschenko an. So könne sie ab sofort auch von deutschen Ärzten in jedem
ukrainischen Krankenhaus ihrer Wahl behandelt werden. Auch bot Asarow der
deutschen Bundesregierung an, Misshandlungsvorwürfe im Gefängnis durch eine
gemeinsame Kommission untersuchen zu lassen.
Einen Tag später wurde Tymoschenko in Begleitung des deutschen Neurologen
Lutz Harms von der Berliner Charité vom Gefängnis in das
Eisenbahnerkrankenhaus nach Charkiw verlegt. Ihren Hungerstreik gab sie nach
fast drei Wochen auf und sollte unter der Anleitung von Harms als ihrem
behandelnden Arzt schrittweise auf eine normale Ernährung umgestellt werden.
Erst dann sollte ihr Bandscheibenvorfall behandelt werden.
Bereits am 15. Mai 2012 brach Tymoschenko aus Protest gegen die
Veröffentlichung ihres Therapieplans durch die Behörden in Charkiw diese
Behandlung wieder ab. Lutz Harms sprach von Bedingungen, die in den meisten
europäischen Ländern „unvorstellbar“ seien. So werde Tymoschenko selbst beim
Duschen und Zubettgehen videoüberwacht. Harms bezweifelte, dass sie in der
Lage sei, am Prozess teilzunehmen.
Am 25. Juni 2012, dem ersten Verhandlungstag gegen Tymoschenko, wurde das
weitere Verfahren auf den 10. Juli 2012 vertagt, die Zeit nach der Fußball-
Europameisterschaft.
Das Gericht in Charkiw ordnete eine amtsärztliche Überprüfung des
Gesundheitszustandes von Tymoschenko an. Der Prozess gegen sie musste in den
folgenden Monaten immer wieder verschoben werden.
Nach den Parlamentswahlen am 28. Oktober 2012 trat Tymoschenko aus Protest
gegen die ihrer Meinung nach erheblichen Wahlfälschungen erneut in einen
Hungerstreik, den sie nach 18 Tagen wieder beendete. Da sie auch weiteren
Gerichtsterminen krankheitsbedingt fernblieb, musste der Prozess weiter vertagt
werden, da ihre persönliche Anwesenheit erforderlich sei.
Auch im Jahr 2013 wurde der Prozess erneut immer wieder vertagt, da die
Verhandlung nicht in Abwesenheit der Beklagten stattfinden könne.
Debatten um Haftentlassung
Nachdem der zu vier Jahren Haft verurteilte ehemalige Innenminister Jurij
Luzenko am 7. April 2013 von Präsident Janukowytsch begnadigt worden war,
erklärte Janukowytsch in Hinblick auf Tymoschenko, ihre Begnadigung sei nicht
möglich, solange die laufenden Gerichtsverfahren gegen sie nicht abgeschlossen
seien.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügte am 30. April
2013 die Inhaftierung Tymoschenkos. Die Untersuchungshaft der Politikerin sei
„willkürlich und rechtswidrig“ gewesen, entschied eine kleine Kammer des
Gerichts einstimmig.
Das Gericht stellte darüber hinaus auch vier Verstöße der Ukraine gegen die
Grundrechte Tymoschenkos fest, wies deren Beschwerde wegen schlechter
Behandlung in Haft aber zurück.
Da die ukrainische Regierung gegen das Urteil keinen Widerspruch einlegte, trat
die Entscheidung des EGMR am 31. Juli 2013 in Kraft.
In Zusammenhang mit der geplanten Ratifizierung des Assoziierungsabkommen
der EU mit der Ukraine, erhöhten Politiker der EU im Herbst 2013 den
diplomatischen Druck auf die Ukraine und forderten eine umgehende Freilassung
Tymoschenkos.
Präsident Janukowytsch erklärte in diesem Zusammenhang, er sei grundsätzlich
bereit Tymoschenko zur ärztlichen Behandlung ins Ausland zu entlassen.
Voraussetzung für einen solchen Schritt sei aber, dass das ukrainische Parlament
ein Gesetz beschließe, das Tymoschenko die Ausreise erlaube. Eine Begnadigung
von Tymoschenko komme für ihn nicht in Frage.
Im November 2013 scheiterten im ukrainischen Parlament mehrere
Gesetzentwürfe, auf deren Grundlage Tymoschenko die Ausreise zur
medizinischen Behandlung in das Ausland ermöglicht werden sollte, an der
ablehnenden Haltung der regierenden Partei der Regionen.
Nachdem die ukrainische Regierung am 21. November erklärt hatte, das
Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht ratifizieren zu wollen, trat
Tymoschenko erneut in einen Hungerstreik, um gegen die Außenpolitik der
Ukraine zu protestieren.