Rolle des EuGH bei der Integration
Dieter Grimm schreibt dazu: „ Der EuGH verstand seine Aufgabe von Anfang
an darin, die wirtschaftliche Integration gegen die oft eigensinnigen Mitglieds-
staaten durchzusetzen.
Mit dieser Zielsetzung interpretierte er die Verträge. Die Grundlage dafür
bildete eine methodologische Vorentscheidung.
Für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge war nach allgemeiner Übung der
Wille der vertragsschließenden Staaten maßgeblich. Souveränitätsbeschrän-
kende Normen mussten eng ausgelegt werden.
Der EuGH brach mit diesem Prinzip und legte die Verträge wie eine staatliche
Verfassung aus, orientiert an einem objektivierten Zweck statt an den Ab-
sichten der Gründer.
Er verstand sich mithin weder als Wahrer der Rechte der vertragsschließenden
Staaten noch als neutrale Schiedsinstanz zwischen den Staaten noch als neu-
trale Schiedsinstanz zwischen den Staaten und der Gemeinschaft, sondern als
treibende Kraft des Integrationsprogramms. Er war ein Gericht mit einer
Agenda.
In zwei umwälzenden Urteilen entschied er zunächst 1963 , dass Gemein-
schaftsrecht in den Mitgliedsstaaten unmittelbar anwendbar war, mit der Folge,
dass die Wirtschaftssubjekte es vor den nationalen Gerichten einklagen
konnten, während die ursprüngliche Vorstellung gewesen war, dass sich das
Gemeinschaftsrecht an die Mitgliedsstaaten richtete und sie verpflichtete,
nationales Recht in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht zu bringen.
Ein Jahr später erklärte er, dass Gemeinschaftsrecht nicht nur unmittelbar,
sondern auch mit Vorrang vor dem nationalen Recht anzuwenden war, sogar
mit Vorrang vor den Verfassungen der Mitgliedsstaaten.
Die nationalen Gerichte wurden verpflichtet, nationales Recht, das mit
Gemeinschaftsrecht unvereinbar war, außer Anwendung zu lassen, ohne
vorher ihre nationalen Verfassungsgerichte anzurufen.
Art.100 GG, der gerade das verlangt, steht zwar immer noch im Grundgesetz,
stimmt seitdem aber nicht mehr.
Quelle: Dieter Grimm, “Europa ja - aber welches?”, 
            Verlag C.H.Beck oHG, München 2016, S.12ff.