Er ist ein Universum der Töne, in dem die nur zwölf Töne, die es im
Tonreich gibt, so zueinander stehen, dass man es ein Universum nennen
könnte: Sie stehen sich in einem Magnetfeld – jeder Ton zum anderen -,
in einer absoluten Gerechtigkeit gegenüber.
Bewiesen. Unfehlbar. Vollkommen.
Das „Wohltemperierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach hat vieles
davon festgeschrieben –  von dieser Gerechtigkeit und Gleichheit, die
mathematisch beweisbar ist und die untereinander keine Fehler
aufweist.
Der Quintenzirkel hat also nicht die Schwachstellen der ideologischen
Kernsätze bisher bekannter politischer Ideologien.
Bitte lasst mich einfach einmal spinnen, denn den Quintenzirkel auf das
gesellschaftliche Leben zu beziehen, ist natürlich Träumerei. Aber
warum nicht mal die Welt der Töne als Vorbild auch für uns Menschen
heranziehen?
Was ist nun dieser Quintenzirkel? Was steckt hinter diesem
komplizierten Wort? Ich will versuchen, auch für Nicht-Musiker das
Wunder dieser phantastischen Welt zu erklären:
Nehmen wir C-Dur. In C-Dur ist C ein „Präsident“, der wichtigste Ton
dieser Tonart, der Ton, der der Tonart seine Ruhe, seine Tiefe und seine
Verantwortung gibt. Dieser Grundton wird „Tonika“ genannt.
Die dazugehörige Quint ist der Ton G, darauf baut sich die wichtigste
Harmonie auf, die C-Dur braucht, um beispielsweise eine kleine
Kindermelodie zu spielen wie „Hänschen klein“. Da kommt man mit den
Grundakkorden C und G schon aus. Diesen Ton nennt man „Dominante“,
ihm kommt also eine dominierende Funktion in C-Dur zu.
De drittwichtigste Ton für C-Dur ist die „Subdominante“, die Quart, in
unserem Fall das F.
Mit diesen drei Harmonien kann man beinahe alle Volkslieder spielen
und viele kleine Melodien, Schlager. Jeder Ton hat in der Quint, in der
Quart, also in der Dominante und in der Subdominante, die wichtigsten
Begleittöne. Man könnte sagen, dass diese Begleittöne „Minister“ für den
jeweiligen Hauptton, also den „Präsidenten“ sind.
Was sind jetzt aber die anderen neun Töne? – Unterschiedlich wichtige
Töne. Sie tragen die Melodie, sorgen für Spannung in dieser Tonart, aber
sie haben gewissermaßen Arbeitsfunktion, druchaus wichtig, aber
untergeordnet. 
In C-Dur entscheidet das C, unterstützt von den „Ministern“ G und F. Sie
geben die Richtlinien vor.
Das bedeutet also, dass in dieser Tonart ganz klare Machtverhältnisse
herrschen: „Präsident“, verantwortungsvolle „Ministertöne“, „ Beamte“,
„Arbeiter“.
Wie verhält es sich aber jetzt in jeder anderen Tonart aus den zwölf
Tönen?
Nehmen wir den Ton, der direkt neben dem C liegt. Man könnte auch
jeden anderen nehmen, es verhält sich immer nach dem gleichen Muster,
mathematisch genau.
Der Ton neben dem C, einen halben Schritt höher zum Beispiel, das Cis. –
In Cis-Dur ist Cis der „Präsident“. Also ein Ton, der eben nur eine
untergeordnete Rolle hatte, ein „Wasserträger“, würde man im Fußball
sagen, ein Arbeiter, der wird jetzt Träger der Verantwortung. Jetzt gibt er
der Harmonie Ruhe, die Macht, das Vertrauen.
Die Quint ist nun das Gis, das wäre jetzt der wichtigste „Minister“,
ebenso das Fis, alle Töne, die in C-Dur die untersten Ränge der
Gesellschaftsstruktur einnahmen, nehmen hier die höchsten ein.
Das C, soeben noch die „Nummer 1“, ist durchaus nicht unwichtig, hat
jetzt – in Cis-Dur – aber eine Arbeiterfunktion. 
So lässt sich das Spiel mit jedem Ton durchspielen. In jeder Tonart
werden die Verantwortungsbereiche fließend und ständig geändert. Der
„Quintenzirkel“ ist also ein immer in sich stimmendes System, das jedem
Ton souveräne Autorität genauso wie dienende Funktion auferlegt.
Herrschaft und Demut in vollendeter Harmonie und Gerechtigkeit.
Haben Menschen sich das ausgedacht?
Nein.
Die Natur hat die Verteilung der Töne vorgegeben, die Menschen haben
dieses Geheimnis aber erst entdecken müssen, genauso, wie wenn
Archäologen etwas ausgraben.
Zwei Töne, die direkt nebeneinander liegen, wie zum Beispiel F und Fis,
erzeugen eine Dissonanz, die dem Ohr fast weh tut. Auf dem
Computerbild sichtbar gemacht, kann man sehen, wie diese beiden
Kurven sich reiben. Vom Komponisten werden solche Reibungen
natürlich bewusst eingesetzt, um Spannungen zu erzeugen.
Die „wohlklingenden Töne“, ein C, E, G, der klassische C-Dur-Dreiklang,
die passen auch sichtbar auf dem Computerbild ineinander. Die
Tonwellen kreuzen sich in harmonischen Formen. Die passenden Töne
passen mathematisch genau in die Schwingungen des anderen Tones
hinein. Dadurch entsteht Wohlklang oder Dissonanz, wie es gewünscht
wird.
Das Interessante daran ist, dass sich bei allen Menschen der Welt, bei
allen Kulturen unserer Zeit, auch bei den asiatischen, die ja ganz andere
Tonreihen in ihrer traditionellen Musik verwenden, diese im Abendland
entdeckte Tonkultur durchgesetzt hat.
Die gesamte abendländische Musikkultur, wird heute in der Welt gehört.
Von der Rock- bis Popmusik, von den Beatles bis zu den Rolling Stones,
von Heavy Metal bis zu Volksliedern, vom Flamenco bis zu alpen-
ländischen Jodlern, von Beethoven bis Bach ohnehin.
Es gibt keine Kunstmusik und keine populäre Musik in der heutigen Zeit,
die nicht auf den Quintenzirkel zurückgeht.
Alle Musik bedient sich dieser Struktur, dieser Ton-Hierarchie. Manche
moderne  Komponisten heben die natürlich vorhandenen Macht-
strukturen unter den Tönen einfach auf. Sie vertreten in etwa den
Standpunkt: „Wir erkennen das nicht mehr an. Uneingeschränkt gleiches
Recht für alle Töne!“ Sie erzeugen also eine Art Anarchie unter den
Tönen und geben jedem Ton die gleiche Macht – oder Ohnmacht.
Natürlich ist jedes Experiment wichtig, aber man muss sagen, dass diese
Klänge größtenteils bis zum heutigen Tag am Publikum, an den Gefühlen
und den Herzen der Menschen vorbeigingen. Musik, die außerhalb des
Quintenzirkels steht, erzeugt kaum Geborgenheit beim Hörer. Die
Gerechtigkeit der Töne untereinander scheint zu fehlen. Es gibt keine
Orientierung, und dadurch fühlen wir uns akustisch alleingelassen.
Es ist keine Musik, die populär wird, die nachpfeifbar, nachsingbar ist,
keine Musik, die uns innerhalb unseres Gefühlslebens eine gewisse
Heimat bietet.
Grandiose Spannung in der Musik wird erzeugt, wenn der Komponist den
Quintenzirkel bewusst verlässt, um chaotischen Aufruhr im Hörer zu
erzeugen und dann wieder zurückzukehren, um den Kontrast deutlich zu
machen.
Mein malender Bruder Manfred hat in den letzten Jahren die Liebe zum
Klavierspielen entdeckt, ohne jegliche Ahnung von musikalischen
Vorgängen zu haben. Ich vermute, dass er nicht einmal weiß, was ein C
oder in F ist. Ich höre ihm gerne zu, wie er im gefühlvollen Chaos auf der
Suche ist. Und siehe da: Wohin er sich auch auf den Tasten verirrt, er
kehrt ständig, ohne es zu wissen, zur Tonika zurück. Der Quintenzirkel
holt ihn ein. Er spielt vollkommen laienhaft wunderschöne, meditative
Musik mit Ausflügen in die Anarchie.
Anarchie ist durchaus etwas Positives, aus dem eine Ordnung entstehen
kann. Das Wort Anarchie kommt aus der Sprache der Astrologie.
Anarchie, glaubte man früher, sei die scheinbare Willkür, in der Sterne im
Weltall sich befinden, in dieser unergründlichen Weite des  Weltraums.
Aber wir lernten langsam, dass diese unergündliche Weite in einer
phantastischen Ordnung zueinander steht, also keine Anarchie ist.
Es ist ein gewaltiger Einklang, vergleichbar mit der Ordnung der Töne
zueinander.
So ist dieser Quintenzirkel eine große, wunderbare Wahrheit, ein
Universum, das Ruhe und Halt und Sicherheit unter den Tönen bietet –
aber auch in den Gefühlen der Menschen.
Doch wie kann man diese Harmonie und Gerechtigkeit der Töne auf ein
politisches System übertragen ...
Udo Jürgens,
”Unterm Smoking Gänsehaut”,
1994, Bertelsmann, S. 286 ff.
Visionen
oder
die Philosophie des Quintenzirkels