„Die Kraft des Herzens war die wohl auffälligste Eigenschaft dieses, des
261. Papstes gewesen. Sie befähigte ihn, aus seiner kurzen Amtszeit ein
"Pontifikat des Aufbruchs" (Kardinal Döpfner) zu machen - ein Pontifikat,
in dem er uralten Gewohnheiten und Bräuchen sanft, aber nachdrücklich
widerstrebend, für die katholische Kirche neue theologische, politische
und soziale Wegweiser setzte. (...)
Die Kraft seines Herzens durchdrang schließlich sogar die in fast 2000
Jahren gewordene, geheiligte und verhärtete Ordnung der Kirche, ihre
Riten und Vorschriften, ihre Überlieferungen und Fesseln, wie sie Bertolt
Brecht in der berühmten päpstlichen Einkleidungsszene seines Schau-
spiels "Leben des Galilei" symbolisch verdeutlicht hat. Dort ist der Papst
am Ende nur noch eine Institution, eine vorschriftsmäßig gekleidete Figur
ohne Gesicht und menschliche Gestalt. Johannes XXIII. blieb auch unter
der entpersönlichenden Gewalt des Amtes ein Mensch und vermen-
schlichte das Amt.
"In keiner Stunde", schrieb letzte Woche der Limburger Weihbischof
Walther Kampe, "wurde der Mensch Giuseppe Angelo Roncalli von der
Papstgestalt des 23. Johannes so aufgesaugt, daß dieser gütige,
väterliche, bescheidene und demütige Christenmensch nicht mehr zu
erkennen gewesen wäre. Im Gegenteil: Von dieser Person gingen so
starke menschliche Kräfte aus, dass auch im Amt des Papstes ganz neue
Seiten aufleuchteten, die vorher nicht in dieser Weise sichtbar gewesen
waren. Der strenge Rahmen des Zeremoniells wurde gesprengt, und das
fast überirdische Erscheinungsbild des Summus Pontifex erhielt
menschliche Züge."
Quelle: „Der Spiegel“ 24/1963, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-