Meine späteren Vorstellungen von Führerschaft wurden grundlegend beeinflusst
durch meine Beobachtungen des Regenten und seines Hofes. Ich verfolgte die
Stammestreffen, die regelmäßig am Großen Platz stattfanden, und lernte daraus. Der
Zeitpunkt dafür war nicht von vornherein festgesetzt, die Versammlungen wurden
anberaumt, wie es die Ereignisse erforderten. Man hielt sie ab, um nationale
Angelegenheiten zu erörtern, etwa eine Dürre, eine Epidemie, das Aussondern von
Merzvieh, Direktiven von seiten des Magistrates, neue Gesetze, welche die Regierung
erlassen hatte. Jedem, der ein Thembu war, stand es frei zu kommen – und sehr
viele kamen auch, zu Pferde oder zu Fuß.
Bei solchen Gelegenheiten war der Regent umgeben von seinen „Amaphakathi“,
einer Gruppe von hochrangigen Beratern, die das Parlament des Regenten bildeten
und die Rechtsprechung ausübten. Es waren weise Männer, die sich gründlich in der
Stammesgeschichte und in den Sitten auskannten und deren Meinungen großes
Gewicht hatten.
Wenn ein Treffen stattfinden sollte, verschickte der Regent Briefe an diese
Häuptlinge und Headmen, und bald wimmelte es im Großen Platz von Besuchern
und Reisenden aus dem ganzen Thembuland. Die Gäste versammelten sich vor dem
Haus des Regenten, und er eröffnete die Versammlung, indem er allen für ihr
Kommen dankte und ihnen erklärte, aus welchem Grund er sie zusammengerufen
hatte. Danach äußert er kein einziges Wort, bis zu dem Zeitpunkt, da die
Versammlung sich ihrem Ende näherte.
Es sprach jeder, der sprechen wollte. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form.
Unter den Rednern mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung des
einzelnen betrifft, doch wurde jeder angehört, ob Häuptling oder einfacher Mann,
Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer, Landbesitzer oder Arbeiter.
Die Leute sprachen ohne Unterbrechung, und die Treffen dauerten viele Stunden.
Grundlage der Selbstregierung war, dass alle Männer ihre Meinungen offen
vortragen konnten und in ihrem Wert als Bürger alle gleich waren (Frauen wurden
bedauerlicherweise als Bürger zweiter Klasse eingestuft.)
(…..) Zunächst erstaunte mich die Heftigkeit – und der Freimut -, mit der Leute den
Regenten kritisierten. Er war keinesfalls über Kritik erhaben – vielmehr war er sogar
häufig die Zielscheibe von Kritik. Aber mochte die Attacke auch noch so gefühlsbtont
sein, der Regent hörte einfach zu, ohne sich zu verteidigen , ohne seinerseits
irgendeine Emotion zu zeigen.
Die Zusammenkünfte dauerten so lange, bis irgendeine Art von Konsens erreicht
war. Ein Treffen konnte nur in Einstimmigkeit enden oder überhaupt nicht.
Einstimmigkeit konnte allerdings auch darin bestehen, dass man darin
übereinstimmte, nicht übereinzustimmen, und zu warten, bis die Zeit günstiger war,
um eine Lösung vorzuschlagen.
Demokratie bedeutete, dass alle Männer angehört werden mussten und dass eine
Entscheidung gemeinsam getroffen wurde, als ein Volk. Herrschaft einer Mehrheit
war eine fremdartige Vorstellung. Eine Minderheit würde nicht durch eine Mehrheit
erdrückt werden.
Erst am Ende des Meetings, wenn die Sonne im Untergehen begriffen war, sprach
der Regent wieder, und er unternahm es, das zusammenzufassen, was gesagt worden
war, und versuchte, zwischen den Meinungen einen Konsens herzustellen. Konnte
ein solcher Konsens nicht erreicht werden, so würde es ein weiteres Meeting geben.
Schließlich trug ganz am Ende ein Lobsänger oder Poet eine Lobpreisung auf die
Könige in uralten Zeiten vor sowie eine Mischung aus Kompliment und Satire auf die
gegenwärtigen Häuptlinge, und die Zuhörer, der Regent miteingeschlossen, brüllten
vor Lachen.
In meiner eigenen Rolle als Führer bin ich stets diesen Prinzipien der Führerschaft
gefolgt, wie sie seinerzeit der Regent demonstrierte. Ich habe immer wieder
versucht, mir das anzuhören, was jeder einzelne in einer Diskussion zu sagen hatte,
bevor ich meine eigene Meinung vortrug. Oft wird meine eigene Meinung einfach
den Konsens dessen repräsentieren, was ich in der Diskussion gehört habe. Ich
erinnere mich immer an ein Axion über Führerschaft, das ich zum erstenmal aus
dem Mund des Regenten hörte. Ein Führer, sagte er, ist wie ein Hirte. Er hält sich
hinter der Herde und lässt die Flinksten vorweggehen, woraufhin die anderen folgen,
ohne zu erkennen, dass sie die ganze Zeit von hinten gelenkt werden.
Quelle: Nelson Mandela, “Der lange Weg zur Freiheit”, 1997,
                  S.Fischer Verlag, 15. Auflage: Mai 2012, S.34 ff.