Bei jeder sexuellen Begegnung kommt es vorübergehend zu einer ganz engen Verbindung
zwischen Geist, Seele und Körper. Dieser Sachverhalt verleiht der menschlichen Geschlecht-
lichkeit eine Bedeutung, die über die Aufgabe, die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zu
sichern, weit hinausgeht.
Das geschlechtliche Verhalten des einzelnen, dessen Gestaltung in seinem freien Willen liegt,
hat große Wirkung auf die Entwicklung seines Geistes und seiner Seele. Ist es nicht Liebe zum
Du, sondern nur das Verlangen nach Triebbefriedigung, das zur Begegnung führt, so ziehen
Seele und Leib den Geist auf die Ebene ihres selbstsüchtigen Begehrens herab. Dadurch
erleidet die Gottverbundenheit des Geistes eine Einbuße.
Je öfter das geschieht, umso mehr gerät der ganze Mensch in die Gottferne und hat es immer
schwerer, den Weg zurück zu Gott einzuschlagen. Die Hinwendung zu Gott verlangt das
Aufgeben des egoistischen Eigenwillens und die demütige Annahme des göttlichen Willens.
Jeder muss es einmal vollziehen und bleibt dazu fähig, selbst wenn er in seinem
geschlechtlichen Verhalten immer tiefer gesunken ist. Denn über den Gottesfunken im Herzen
des individuellen Geistes bleibt er mit Gott verbunden; von dorther durchdringt in jeder sexuellen
Begegnung – dem menschlichen Bewußsstsein ganz verborgen – etwas von Gottes Liebe den
Menschen in Geist, Seele und Leib. Das bewirkt, dass keiner, auch nicht der innerlich weit von
Gott entfernte Mensch, jemals ganz aus dem Gesamtzusammenhang des Lebens herausfällt.
Es ist leicht einzusehen, dass mehr von Gottes Liebe in den ganzen Menschen einfließt, wenn
die geschlechtliche Begegnung aus inniger Liebe gewünscht wird. Die Liebenden werden in
ihrem Inneren angerührt, wodurch ihre Liebe auch zu ihrem Schöpfer und zu den Mitmenschen
zunimmt.
Das Gleiche kann aber auch eintreten, wenn es innerhalb einer Liebesbindung niemals zu einer
geschlechtlichen Begegnung kommt. Solche – als platonisch bezeichnete – Freundschaften
können für die innere Entwicklung der Partner von derselben Bedeutung sein wie eine Ehe oder
eine eheähnliche Beziehung. Indessen ist die Form, in der sich die Liebe der Menschen äußert,
von unübersehbarer Vielgestaltigkeit, denn kein Mensch gleicht dem anderen. Vielen bringt die
Liebe zum Du den inneren Aufschwung, der den Weg für das Einströmen der göttlichen Liebe
öffnet.
Dasselbe kann aber auch eintreten bei der unmittelbaren Hinwendung in Liebe zu Gott unter
Verzicht auf jede geschlechtliche Begegnung. Ist der Weg, auf welche Weise auch immer,
geöffnet worden, dann wächst der Mensch allmählich in jene selbstlose Liebe hinein, von
welcher der Apostel Paulus im 13.Kapitel des 1.Korintherbriefes sagt, dass der Mensch sie
„haben“ kann: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so
wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle …. Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht … sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.“ Diese
Liebe zu erlangen, ist das Ziel, das dem Menschen in der Schule des Erdenlebens gesetzt ist.
Quelle: Carl Welkisch, “In der Liebesglut Gottes - Erlebnisse und
Einsichten über das Zusammenspiel von Liebe und Sexualität”,
Geistfeuer-Verlag, 1987, S. 14 ff.