Religionsgemeinschaften als Verfassungssubjekte:
   Libanon als Modell für Nahost?
Dr. Stephan Rosiny  (wissenschaftlicher Mitarbeiter im GIGA Institut für Nahost-
Studien) sieht sowohl Vor- als auch Nachteile. Das libanesische politische
System könnte jedoch vor allem als Übergangslösung in anderen Staaten im
Nahen Osten als Vorbild dienen. 
Hier ein Auszug aus der Studie “Religionsgemeinschaften als Verfassungs-
subjekte Libanon als Modell für Nahost” (2010) von Dr.Rosiny:
Am 13. April jährte sich der Beginn des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990),
in dem konfessionelle Identitäten eine konflikteskalierende Rolle spielten. Im
Friedensabkommen von Taif (1989) beschlossen daher die Repräsentanten der
Religionsgemeinschaften, den politischen Konfessionalismus abzuschaffen und
ihn nur noch als Übergangslösung bestehen zu lassen. Doch das Provisorium
wurde mittlerweile zum Dauerzustand.
Analyse des politischen Systems (Jahr 2010):
Die herausragende Stellung der Religionsgemeinschaften und ihr Grad an Auto-
nomie gewährten dem Libanon eine im Nahen Osten einmalige gesellschaftliche
und politische Pluralität. Das konfessionelle Proporzsystem bewahrte das Land
vor dem Schicksal autokratischer Herrschaft, wie sie ansonsten in der Region
nach wie vor üblich ist.
- Die Verteilung politischer Ämter nach Religionszugehörigkeit und die Mentalität
des Konfessionalismus sind jedoch auch massgeblich für die Fragmentierung
von Staat und Gesellschaft im Libanon verantwortlich.
-  Die aktuell besonders gewaltsamen Umbrüche im Jemen, in Bahrain, Libyen
und Syrien finden in fragmentierten Gesellschaften mit autoritären Regimen
statt. Dort halten ethnische, konfessionelle oder tribale Minderheiten gewaltsam
an der Macht fest, da sie einen absoluten Machtverlust und die Rache der bislang
Diskriminierten befürchten.
-  Das libanesische Beispiel zeigt, dass eine proportionale Beteiligung der
Gemeinschaften ein hohes Mass an Pluralität und politischer Mitsprache ermög-
licht. Die starken Gemeinschaften verhindern die diktatorische Herrschaft einer
einzelnen Clique.
Der Libanon bietet andererseits ein abschreckendes Beispiel für die Verstetigung
von segregierenden Identitätszuschreibungen. Die Konkordanzdemokratie muss
deshalb als zeitlich befristete Lösung mit einer klaren Exit-Strategie verfasst
sein.
Strukturprobleme des Konfessionalismus
Der Libanon und seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 der Irak sind
die beiden einzigen arabischen Demokratien in der Region, in denen bei regel-
mässig stattfindenden, relativ freien Wahlen zahlreiche Kandidaten und Parteien
kompetitiv gegeneinander antreten können, in denen sich Regierungen, Staats-
und Ministerpräsidenten abwechseln und in deren Parlamenten kontrovers dis-
kutiert wird.
Dabei sind Machtposten bestimmten Konfessionen und (im Falle des Irak)
Ethnien zugeschrieben, um deren gerechte Beteiligung zu garantieren. Hinter
dem vermeintlichen politischen Pluralismus verbirgt sich deshalb eine auf
ethnischer bzw. konfessioneller Identität beruhende Fragmentierung in
zahlreiche Subgemeinschaften.
Sie sind die eigentlich meinungsbildenden Einheiten. Ideologische Konkurrenz
kaschiert dabei häufig nur den Verteilungskampf zwischen Gemeinschaften.
Innerhalb derselben Gemeinschaft streitet man darüber, wer sie legitim repräsen-
tieren dürfe.
So geraten fast alle politischen Kontroversen, auch wenn sie fern jeder religi-
ösen Bedeutung sind, ins Fahrwasser partikularer Interessen.
Im Folgenden werden einige strukturelle Probleme der Erhebung von ethnischen
und konfessionellen Gemeinschaften zu Verfassungssubjekten beschrieben und
erörtert. Der Libanon eignet sich als Exempel, da in ihm eine Konkordanzdemo-
kratie bereits langfristig etabliert und deshalb strukturbildend verankert ist.
Daraus sollen abschliessend Lehren und Lösungen für andere nahöstliche
Gesellschaften abgeleitet werden.
Konfessionen als politische „Zwangsgemeinschaften“
Die Politisierung der Konfessionen zu Verfassungssubjekten verstetigt die
Zuordnung der Menschen primär nach ihrer religiösen Herkunft und macht sie
von im modernen Sinne freiwilligen religiösen Bekenntnissen zu quasi endo-
gamen Ethnien.
Vielen Libanesen ist dies zuwider, und sie weigern sich in Alltagsgesprächen, die
Frage nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit zu beantworten. Sie sehen ihre
primäre Identität möglicherweise in einer anderen, frei gewählten und sich ver-
ändernden Form der Vergemeinschaftung, etwa der libanesischen Nation.
Identitäten sind im Libanon höchst fluide und multipel. Sie wechseln im Kontext,
in dem ein Mensch auftritt, nach seiner sozioökonomischen Stellung, nach Bild-
ung und Religiosität (Rosiny 1996: 31-42).
Doch ohne Konfessionszugehörigkeit „existieren“ Libanesen weder als Familien-
menschen noch als politische Subjekte. Ein Austritt ohne Konversion ist recht-
lich nicht möglich.
Die Konfessionen monopolisieren das Familienrecht, weshalb Mischehen nur in
Ausnahmefällen geschlossen werden können. Eine im Ausland eingegangene
Zivilehe wird allerdings anerkannt.
Das Projekt der Einführung einer fakultativen Zivilehe durch Präsident Hrawi
stieß im Jahr 1998 auf die einhellige Ablehnung der Religionsgelehrten. Sie
verlören hierdurch nicht nur eine wichtige, Autorität verleihende Funktion,
sondern auch eine bedeutende Einnahmequelle.
Nicht zuletzt verlöre man ohne Konfession das passive Wahlrecht, da alle
Kandidaten, selbst Atheisten, für einen ihrer Herkunftskonfession zustehenden
Sitz kandidieren müssen. Das Vorhaben, eine neunzehnte, offiziell anerkannte
„Konfession der Konfessionslosen“ zu gründen, scheiterte. Hybride, gemischte
Identitäten, die als Bindeglieder fungieren könnten, werden zu einer eindeutigen
Positionierung gezwungen.
Während des Bürgerkriegs waren Menschen wegen ihrer im Ausweis notierten
Religionszugehörigkeit an den Checkpoints konfessioneller Milizen aussortiert,
als Geiseln gegeneinander ausgetauscht oder massakriert worden. Bis heute
gelten 10.000 bis 20.000 Menschen als verschollen. Doch erst im Jahr 2009
konnte es Innenminister Ziyad Baroud durchsetzen, dass Bürger ihre Religions-
zugehörigkeit auf Wunsch aus den Identitätsdokumenten streichen lassen
können.
Mangel an Transparenz
Ein wichtiges Element der Konkordanzdemokratie ist die Aushandlung von Kom-
promissen. Nur selten geschieht dies jedoch in transparenter und öffentlicher
Form. Die wesentlichen Gespräche finden vielmehr hinter verschlossenen Türen
statt, wobei häufig nicht demokratisch legitimierte Vertreter der Konfessionen als
wesentliche Akteure auftreten.
Regionale und internationale Akteure können eine wesentliche Rolle zur Stärk-
ung einer Seite oder als Mediatoren zwischen den Interessensgruppen über-
nehmen.
Die Intransparenz solcher oft langwieriger Aushandlungsprozesse macht politi-
sche Analyse fast schon zu einer Geheimwissenschaft. Gerüchte in der Presse
und auf der Straße können sich zu Verschwörungstheorien hochschaukeln. Poli-
tische Gegner werden schnell zu „Agenten“ fremder Mächte stilisiert – wobei die
Einflussnahme externer Akteure über lokale Stellvertreter nicht zu leugnen ist
und durch die Intransparenz durchaus gefördert wird.
Konfessioneller Expansionismus
Das Konsensideal der Konkordanzdemokratie, nach dem keine (wesentliche)
Gemeinschaft durch einen Zusammenschluss der anderen überstimmt werden
darf, ist verfassungsmäßig nur schwierig zu verwirklichen.
Die konfessionalistischen Politiker sind deshalb bemüht, neben den ihnen
zustehenden Posten auch andere relevante außerkonstitutionelle Machtbereiche
und Ressourcen zu dominieren, um ihre „Vetomacht“ zu erhöhen. Häufig domi-
nieren einzelne Konfessionen bestimmte Institutionen des Staates, oder sie
schaffen sich angesichts mangelnden Vertrauens in den Staat ihre eigenen
parallelen Einrichtungen. Konfessionalismus hat die Tendenz, zunehmend viele
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen.
Chancen und Risiken des Konfessionalismus
Die aktuellen Umbrüche im Nahen Osten eskalieren besonders in jenen Ländern
gewaltsam, in denen ethnisch-konfessionelle bzw. tribale Minderheiten autoritär
herrschen und bedeutende Gemeinschaften ausgrenzen (Jemen, Bahrain, Libyen
und Syrien).
Auch im Irak, in Jordanien und in Saudi-Arabien spielt die gesellschaftliche Frag-
mentierung entlang ethnischer und konfessioneller Identitäten eine konfliktver-
schärfende Rolle. Mit Ausnahme des Irak (seit dem Jahr 2003) herrschen in die-
sen Ländern weithin monoethnische Eliten, die Angehörige anderer Gemein-
schaften bestenfalls kooptieren, ihnen aber keine adäquate Partizipation ermög-
lichen.
Ein Machtwechsel in einer solchen Konstellation birgt die Gefahr der Gewaltes-
kalation, da die Gegnerschaft zwischen bislang Privilegierten und Diskriminier-
ten essentialistisch mit Gruppenidentitäten verbunden wird. Beide Seiten können
versucht sein, Rachegefühle für die bisherige Unterdrückung bzw. den Machtver-
lust an Angehörigen der anderen Gemeinschaften auszuleben.
In dieser Situation kann eine Konkordanzdemokratie als Form des Elitenkompro-
misses eine Lösung bieten.
Sie ist im Libanon in Reaktion auf die existenzielle Krise des Bürgerkriegs im
Jahr 1990 bestätigt worden, weil sie den konfessionellen Milizen eine Schutz-
garantie zur Abgabe ihrer Waffen bot.
In dieser Situation einer negativen Pluralität sich gegenseitig misstrauender
Gewaltakteure verhinderte die proportionale Vertretung eine Majorisierung durch
den Stärkeren.
Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 hätten die
bereits autonomen kurdischen Provinzen einem Verbleib im Irak sicherlich nicht
zugestimmt, wenn ihnen nicht eine Teilautonomie und eine „gerechte“ Vertret-
ung im Staat garantiert worden wären.
Auch die bislang diskriminierte schiitische Bevölkerungsmehrheit verlangte
nach einer angemessenen Vertretung und hätte mit der Separation der Süd-
provinzen oder einer „schiitischen Mehrheitsdiktatur“ Alternativen zur Konkor-
danz gehabt.
Der Übergang zu einer Konkordanzdemokratie geschieht in solcher Situation aus
der Einsicht in die Notwendigkeit. Die bislang herrschende(n) Gemeinschaft(en)
erkennen, dass sie ihre Dominanz nicht weiter aufrechterhalten können und
Gefahr laufen, die Macht völlig zu verlieren. Die Opposition realisiert, dass ein
Regimesturz und eine Machtübernahme nur unter unverhältnismäßig hohen
Kosten und Verlusten an Menschenleben zu erreichen wäre.
In den beiden bislang bestehenden Fällen im Libanon und Irak konnte sich diese
Erkenntnis nur durch externe Vermittlung bzw. Intervention durchsetzen. Im
Jemen bemüht sich der Golfkooperationsrat bislang erfolglos, eine gesichts-
wahrende Lösung zu finden.
In Bahrain fällt die sunnitische Al Khalifa-Dynastie in die Methode bloßer Rep-
ression der schiitischen Bevölkerungsmehrheit zurück.
In Libyen kann es zu einem Machtteilungsarrangement der Stämme wohl erst
nach der Entfernung von Qaddafi kommen.
In Syrien scheint der Leidensdruck auf Seiten des Regimes und der Aufstän-
dischen noch nicht groß genug für ein Arrangement. Ohne externen Vermittler –
die Türkei oder Ägypten kämen hierfür in Frage – droht die Gewaltschraube
weiter zu eskalieren.
Das libanesische Beispiel zeigt jedoch, dass auf ethnisch-konfessioneller Differ-
enz beruhende Machtarrangements nur als zeitlich befristete Übergangslösun-
gen sinnvoll sind, da sie ansonsten zur Verstetigung und Intensivierung von
gesellschaftlicher Fragmentierung und der Schwächung des Staats tendieren.
Die Verfassung sollte deshalb bereits eine institutionell verankerte und zeitlich
festgelegte Exit-Strategie enthalten. Für die Übergangszeit muss es einen über-
gemeinschaftlichen Vermittlungsausschuss geben, um Eskalationsspiralen, wie
sie den Libanon seit Jahren plagen, auch ohne externe Intervention zu überwin-
den.
Die Zweite Republik im Libanon hätte seit dem Jahr 1990 offensiver eine Über-
windung des mentalen Konfessionalismus angehen müssen, indem sie gemein-
same Institutionen und Aktivitäten fördert.
Überkonfessionelle intermediäre Instanzen wie Schulen und Universitäten,
Parteien, Gewerkschaften, Medien und Sportverbände müssen rechtlich und
finanziell gegenüber partikular-konfessionellen Einrichtungen begünstigt
werden.
Die gleichmäßige Entwicklung der Regionen ist ein zentraler Schritt für den
sozioökonomischen Ausgleich zwischen den Gemeinschaften und zur Einheit
der Nation.
Es ist das Dilemma von Verhandlungsdemokratien, dass die Notwendigkeit einer
Strukturreform in Krisenzeiten besonders offensichtlich ist, sich diese aber
wegen der Vetomacht einzelner Akteure meist gerade dann nicht durchsetzen
lässt.
Die im Konfessionalismus an die Macht gelangten Politiker müssten sich quasi
am eigenen Schopf packen und aus dem Sumpf der konfessionalistischen Men-
talität ziehen. Seit dem Jahr 1990 ist den libanesischen Politikern dieses Kunst-
stück jedoch (noch) nicht gelungen.
Der Autor
Dr. Stephan Rosiny ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im GIGA Institut für Nahost-Studien. Seine
Forschungsschwerpunkte umfassen Islamismus, Gewalt und Religion, den schiitischen Islam und
den ost-arabischen Raum.
Quelle und gesamter Artikel: https://www.giga-
hamburg.de/de/system/files/publications/gf_nahost_1104.pdf