US-Außenpolitik in der Kritik
Amerikas Doppelmoral in der Ukraine
Die amerikanische Haltung in der Ukraine-Krise sorgt für Kritik: Die Obama-
Regierung erkennt die ukrainische Übergangsregierung an und pocht auf das Recht auf
Selbstbestimmung. Auf der Krim dagegen gelten andere Maßstäbe. Ein Fall von
Doppelmoral?
Von Silke Hasselmann, MDR-Hörfunkstudio Washington
Begonnen hat diese Woche am Sonntag mit drei Fernsehauftritten durch US-
Außenminister John Kerry. In einem "unglaublichen Akt der Aggression" habe
Russland die Souveränität der Ukraine und mehrere internationale Verträge verletzt,
sagte er da. Dann beklagte er in allen drei Talkshows fast wortgleich: "Man kann
nicht einfach unter erfundenen Vorwänden in ein anderes Land einfallen, um die
eigenen Interessen durchzusetzen."
Daraufhin fragte die "Washington Post" etwas beschämt: "In der Sache hat Kerry
natürlich Recht, aber müssen ausgerechnet wir Amerikaner in diesem Punkt
öffentlich moralische Belehrungen absondern?" Ähnlich reagierten viele Zuschauer
in diversen Internetforen. Sie erinnern sich an das kleine südamerikanische
Grenada, in das Präsident Reagan 1983 das US-Militär geschickt hatte. Angeblich um
die Sicherheit von ca. 500 US-amerikanischen Studenten besorgt, stürzte es die
Regierung und beendete ganz nebenbei ein sozialistisches Experiment.
"Doppelte Maßstäbe? Jede Situation ist anders"
Noch frisch in Erinnerung ist der März 2003, in dem US-Präsident George W. Bush
den Irakkrieg mit der Lüge begann, Iraks diktatorischer Präsident Saddam Hussein
habe Massenvernichtungswaffen versteckt. Amerika marschierte ohne UN-Mandat
in das Land und brach etliche internationale Rechte. Dennoch hatten sich bis auf
einen Demokraten alle damaligen US-Senatoren geschlossen hinter Präsident Bush
gestellt und ihm die Vollmacht zu dieser Invasion erteilt - darunter die späteren US-
Außenminister Hillary Clinton und John Kerry.
"Jede Situation ist anders", wiegelte Kerrys Sprecherin Jen Psaki in einem Gespräch
mit dem ARD-Hörfunk den Vorwurf doppelter Maßstäbe ab. "Außenminister Kerry
hat sich zum Thema Irak geäußert und ich will das nicht neu aufwärmen. Aber in
diesem Fall sprechen wir nicht über ein militärisches Engagement unsererseits. Fakt
ist, dass die Russen leugnen, internationales Recht zu verletzen. Mit ihren
militärischen Aktionen auf der Krim widersprechen sie ihrer eigenen Zusage, die
Unverletzlichkeit des ukrainischen Territoriums anzuerkennen."
Verfassungstreue oder Recht auf Selbstbestimmung?
Apropos "anerkennen": Moskau sieht in der Art, wie der demokratisch gewählte
Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt worden ist, einen Verstoß gegen die
ukrainische Verfassung. Es erkennt die jetzige Übergangsregierung in Kiew nicht an. 
US-Außenminister Kerry hingegen überbrachte vorigen Dienstag demonstrativ einen
Eine-Milliarde-Dollar-Kredit an die Übergangsregierung, die Washington von
Anfang an als "legitim" anerkannt hat. In diesem Punkt hält man sich nicht lange mit
der ukrainischen Verfassung auf. Die brachte Präsident Barack Obama erst am
Donnerstag ins Spiel, als das Parlament der Autonomen Republik der Krim für eine
Abspaltung von der Ukraine und den Beitritt zu Russland gestimmt und für die
kommende Woche eine Referendum anberaumt hatte.
"Die vorgeschlagene Volksabstimmung würde die ukrainische Verfassung und
internationales Recht verletzen", erklärte Obama, kurz nachdem er erste Sanktionen
und Reisebeschränkungen für einen bestimmten Kreis von Russen und Ukrainern
verfügt hatte, darunter für "jede Person, die die Macht in Teilen oder Regionen der
Ukraine an sich zieht, ohne von der legitimen ukrainischen Regierung
bevollmächtigt zu sein.
So steht es in Obamas Exekutivanordnung, die angeblich unabhängig von dem
Referendumsbeschluss auf der Krim entstanden ist. In seinem kurzen Auftritt vor
der Presse hatte Obama weiter erklärt, dass "jede Diskussion über die Zukunft der
Ukraine deren legitime Regierung einschließen" müsse. Im Jahr 2014 sei man "weit
über jene Tage hinaus, als Landesgrenzen noch über die Köpfe demokratischer
Führer hinweg verändert wurden."
Abgesehen davon, dass auch in den USA viele Beobachter skeptisch sind, ob es sich
bei den jetzigen Machthabern in Kiew um "demokratische Führungspersönlich-
keiten" handelt, ist eines klar: Wenn es passt, pochen US-Regierungen lieber auf das
Selbstbestimmungsrecht von Völkern.
Ein Fehler mit Folgen
So mehrfach geschehen nach dem Zerfall der Sowjetunion, so auch geschehen nach
dem Balkan-Krieg in den 1990er-Jahren. Sogar als sich Anfang 2008 das kleine
Kosovo gegen den Willen Serbiens einseitig für unabhängig erklärte, war auch
Washington nicht etwa die Verfassung oder die Meinung des gesamten serbischen
Landes wichtig. Vielmehr erkannte auch die US-Regierung das Kosovo als Staat
sofort an, was übrigens etliche amerikanische Völkerrechtler und Beamte im State
Department für einen Fehler halten. Denn fortan könnten sich Separatisten in
anderen Ländern mit einigem Recht auf dieses Vorbild berufen - ob sie nun einen
eigenen Staat gründen oder sich - wie die Krim - einem anderen Staat anschließen
wollen.
Doch in diesem Fall spielt das Selbstbestimmungsrecht wieder eine untergeordnete
Rolle. Es gilt ja auch, Russland im Blick zu behalten. US-Präsident Obama und US-
Außenminister Kerry pochen jedenfalls beim Thema Krim-Referendum auf die Treue
zu jener gesamtukrainischen Verfassung, deren vorherige Verletzung bei der
Machtergreifung in Kiew sie mit keinem Wort kritisieren.
Stand: 08.03.2014