Die Einigung Italiens am 20. September 1870, die mit der kirchenpolitisch so
bedeutsamen Einnahme Roms an der Porta Pia ihren Abschluss fand, war nur ein
Element jener Haltung, die eine höhere Autorität – vor allem, wenn sie sich vom
Überirdischen her begründete – ablehnte und den Menschen ausschließlich in
seiner gegenwärtigen Wirklichkeit sah.
Es ist die Zeit, in der die Ideen eines Karl Marx Europa überrannten, Friedrich
Nietzsche den Wahn des Menschen, „Übermensch“ zu sein, theoretisierte, und
Sigmund Freud hinter das Bewusstsein blickte, um das Unbewusste zu erforschen.
Es ist die Zeit, in der an der Realität des Menschen gearbeitet wurde, um sie
aufzudecken, zu verändern und manchmal sogar verhängnisvoll zu überhöhen.
Die unter den Arbeitern verbreiteten marxistischen Theorien führten im Geburts-
jahr Roncallis zur Gründung der ersten sozialistischen Arbeitervereinigung.
1893 wird die Sozialistische Partei Italiens daraus hervorgehen.
Die Kirche in Italien stand zunächst alledem mit vehementer Ablehnung gegen-
über. Die Einigung Italiens war nur eines der Elemente, denen sich die Kirche
widersetzte: Papst Pius IX. erklärte sich zum „Gefangenen im Vatikan“ und verbot
den italienischen Katholiken zu wählen. Doch tatsächlich hatten damals nur zwei
Prozent der Italiener das Wahlrecht. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis es
allgemein wurde. Doch während der Papst auf Oppositionskurs ging, ermöglichte
das konfiszierte Kirchengut den Regierungen der sogenannten „historischen
Rechten“, in den ersten Jahren nach der Einigung Italiens enorme Probleme zu
lösen.”