„Maßnahmenvollzug ist richtige Arbeit“
Mathias Illigen hat seinen Vater getötet. Nach knapp vier Jahren Therapie kam er frei.
Einer, der weiß, was Zurechnungsunfähigkeit bedeutet, ist der Vorarlberger Mathias Illigen. Er hat
sie am eigenen Leib erlebt.
Mathias Illigen hat seinen Vater getötet. Nicht im Streit, nicht in Rage. Mit voller Absicht hat er ihm
am 24. Jänner 2007 erst einen Stein, dann ein Bügeleisen über den Kopf gezogen. Und ihm dann
einen Plastiksack übers Gesicht gestülpt und ihn erstickt.
Gemeinhin nennt man das Mord. Nicht im Fall des heute 35-Jährigen. Ihm beschied das Gericht in
Feldkirch mit acht zu null Stimmen, dass er nicht schuld-fähig ist. Dass er nicht ins Gefängnis,
sondern in die Psychiatrie muss.
Denn Mathias Illigen hatte im Wahn gehandelt (siehe unten). Er litt an Paranoider Schizophrenie.
KURIER: Herr Illigen, Estibaliz Carranza soll zwei Männer getötet haben. Wenn das
so ist – glauben Sie, ihr war klar, was sie tut?
Mathias Illigen: Ich kenne den Fall und Teile des Gutachtens nur aus den Medien. Sollte sie die
Taten begangen haben und es zu einer Verurteilung kommen, vermute ich, dass sie den Paragraf
21/2 bekommen wird – Schuldfähigkeit und Einweisung.
Als Sie damals zum Bügeleisen gegriffen haben – war Ihnen bewusst, was Sie tun?
Das kommt darauf an. Mir, so wie ich jetzt bin, war nicht klar, was ich tu’. Aber diesem
psychotischen Mathias Illigen, der ich in dem Moment war, war schon klar, was er da tut, ja. Und es
war überhaupt keine Frage, dass das nicht genau das Richtige ist, was ich tun muss.
War das „Spiel“, die Psychose vorbei, als Ihr Vater tot war?
Nein, vorbei war es erst nach ein paar Monaten auf der Psychiatrie. Relativ schnell nach der Tat war
aber die Konfrontation mit der Diagnose sehr wichtig. Dass es eine rationale Erklärung dafür gibt,
was das alles ist, das hatte ich ja vorher nicht.
Und wann kam das schlechte Gewissen?
Das entwickelt sich mit der Zeit. Es ist mir von Tag zu Tag und von Woche zu Woche immer mehr
bewusst geworden, was eigentlich passiert ist und dass ich das gemacht hab. Und dann war natürlich
das Entsetzen über mich extrem groß.
Sie wurden vom Gericht für zurechnungs- und schuldunfähig erklärt. Hatten Sie im
Vorfeld Angst vor dem Prozess?
Nein. Mir war nur wichtig, dass ich aus der Psychose rausgekommen bin. Es war relativ klar, was
passieren wird, dass man mich prophylaktisch einweisen wird. Ich hatte große Angst vor der
geschlossenen Psychiatrie und vorm Maßnahmenvollzug, weil da wirst du auf unbefristete Zeit
eingesperrt, so lange es der Zweck erfordert – eine schwammigere Formulierung kann man sich
kaum vorstellen als Betroffener.
Wäre Gefängnis besser ge-wesen?
Es gibt viele, die sagen das. Ich teile das nicht. Es ist ganz was anderes. Im Gefängnis musst du
eigentlich nichts tun. Im Maßnahmenvollzug musst du nur tun. Maßnahmenvollzug ist arbeiten,
richtig arbeiten. Ich habe gelesen, dass die Rückfallszahlen bei Haftentlassenen bei über 55 Prozent
liegen, beim Maßnahmenvollzug sind es zwölf oder 13 Prozent. Also es ist eindeutig nachgewiesen,
dass der Maßnahmenvollzug effektiver ist, weil die Leute werden ungefährlicher und sind danach
nicht mehr kriminell.
Sie wurden nach knapp vier Jahren in Rankweil, Göllersdorf und auf der
Baumgartner Höhe entlassen. Was sagen Sie Menschen, die meinen, Sie seien gut
weggekommen?
Die Leute kennen Maßnahmenvollzug gar nicht, sie wissen nicht, was das ist, was dort passiert. Im
Maßnahmenvollzug musst du ständig arbeiten, mit dir selber, jahrelang. Ohne einen Rückschritt
machen zu dürfen.
Sie waren schuldunfähig, mussten daher nicht bestraft werden. Haben Sie die
Psychiatrie dennoch als Strafe empfunden?
Nein. Ich bin in der ganzen Sache vieles, aber sicher kein Opfer. Der Maßnahmenvollzug war die
Pflicht, zu lernen, Verantwortung für mein Tun zu übernehmen. Ich seh’ das aber nicht als Strafe.
Eher als Chance, sich zu ändern, etwas in der Welt zu verändern und was zu tun.
Haben Sie deshalb auch Ihr Buch geschrieben?
Ich wollte damit in erster Linie meine Geschichte verfügbar machen. Schizophrenie. Psychose. Das
ist in unserer Gesellschaft etwas so Unbekanntes und Tabuisiertes, dass nur Gerüchte bestehen und
so gut wie kein Wissen darüber. Schizophrenie kann man plötzlich kriegen, sie kann plötzlich akut
werden, obwohl man vorher ganz gesund war. Ganz so wie
man von heute auf morgen eine Grippe bekommen kann. Ich wollte zeigen, dass sich niemand
sicher sein kann, dass er niemals eine psychische Erkrankung kriegt.
Ist Ihr erster Gedanke in der Früh auch heute noch: ,Oh Gott, was hab ich nur getan‘?
Nein, ich denke nicht permanent daran, wenn Sie das meinen. Aber das Wichtige ist, dass die
Momente, in denen man daran denkt, nicht so bleiben. Das Entscheidende ist, nicht zu verzweifeln.
Ich kann nicht vor Schock er-starren. Ich bin auch nicht gesünder oder ungefährlicher, wenn ich vor
Schock erstarre.
Viele Stellen im Buch machen einem Angst, manche sind aber zum Lachen. Haben Sie
wirklich geglaubt, dass man Sie zum Papst durchspazieren lässt?
Ja. (lacht) Abgedreht, nicht? Ich finde, psychische Krankheiten haben sehr wohl etwas, worüber
man lachen kann. Auch wenn man betroffen ist. Wenn man irgendwie damit zurechtkommt, dass
man als verrückt gilt, das hilft einem auch.
Haben Ihnen Ihre Geschwister verziehen?
Ja, ich glaub’ schon. Sie gehen normal mit mir um.
Was machen Sie am 24. Jänner?
Das weiß ich noch nicht. Bisher hab’ ich immer zurückgedacht. Nächstes Jahr will ich was anderes
machen, was Positives.
Unter welchen Auflagen hat das Gericht Sie entlassen?
Ich muss Medikamente nehmen. Ich muss regelmäßig zum Psychotherapeuten, ich habe einen
Bewährungshelfer. Und ich muss nachweisen, dass ich keine Drogen nehme. Aber ich fühle mich
dadurch nicht sehr eingeschränkt. Ich schreibe an meiner Dissertation. Und ich schreibe an einem
neuen Buch, dieses Mal wird es etwas Belletristisches, Kurzgeschichten. Ich leb’ mein Leben ganz
normal.
Mit Anna, die Sie in der Psychiatrie kennengelernt haben?
Ja. Wir sind noch zusammen und sehr glücklich.
Und wer bügelt bei Ihnen zu Hause?
(lacht) Das ist eine gemeine Frage. Sie. Aber nicht, weil sie Angst vor mir hat. Sie bügelt, weil ihr
das wichtig ist und mir nicht. Dafür koche ich für sie.
Mathias Illigen: Ich oder Ich.
Die wahre Geschichte eines Mannes,
der seinen Vater getötet hat,
Edition a, 2012.
Der Autor über paranoide Schizophrenie als Grund für
die Bluttat, weiße Räume ohne Geräusche und Internet-
Trolle
Er habe sich nicht in die Auslage stellen wollen, sagt Mathias Illigen, der vor vier
Jahren in Vorarlberg seinen Vater mit einem Bügeleisen erschlagen hat und deshalb
wegen Mordes verurteilt wurde. "Ich will die Menschen für das Thema psychische
Erkrankungen sensibilisieren. Ich bin mir sicher, dass es irgendjemanden geben wird,
der aufgrund dieses Buches bereit ist, sich selbst Defizite und Fehler
einzugestehen."Aufgrund der Diagnose "paranoide Schizophrenie" wurde der heute
34-Jährige für die Tat als zurechnungs- und schuldunfähig erklärt. Die Strafe:
Maßnahmenvollzug in der Psychiatrie.
"Es hat gedauert, bis ich die Realität annehmen konnte", sagt er heute. In seinem
Buch "Ich oder Ich" (edition a) beschreibt er auch die intensive Bewältigung der
Krankheit: "Wenn das Ich total zerbröselt, ist nichts mehr da, woran man sich
festhalten kann, und man kann es wieder neu aufbauen." Im September 2010 wurde
er entlassen und wohnt seitdem in Wien. Zehn Jahre verpflichtende
Psychopharmaka-Einnahme ist eine der Bedingungen.
derStandard.at: Haben Sie mit dem großen Medieninteresse an Ihrer Person
gerechnet?
Mathias Illigen: Ich habe erwartet, dass es ein gewisses Interesse geben kann, aber
mit so einem riesigen Interesse habe ich nicht gerechnet. Ich habe das Buch
geschrieben, weil ich ein gutes Buch schreiben und meine Geschichte erzählen
wollte. Darum geht es mir. Die Diskussionen, die sich jetzt daraus ergeben, finde ich
teilweise etwas eigenartig. Als ich entlasse wurde, hat das niemanden interessiert.
Das fand niemand auffällig. Und jetzt merke ich, dass auch das die Menschen
beschäftigt.
derStandard.at: Mit Ihrem Buch haben Sie die Diskussion aber sehr wohl
"angeheizt". Es hätte ansonsten wahrscheinlich niemand mitbekommen, dass Sie
entlassen wurden.
Illigen: Ja, das ist schon klar, dass rundherum Geschichten entstehen. Das sehe ich
mittlerweile aber gelassen. Ich finde es nur schade, dass das Buch nicht zum Anlass
genommen wird, um über psychische Erkrankungen oder die Psychiatrie zu
diskutieren. Das wäre mein Ziel gewesen und wäre auch wünschenswerter.
derStandard.at: Welche Diskussion hätten Sie sich konkret gewünscht?
Illigen: Ich wollte das Tabuthema psychische Erkrankungen lüften. Ich bin der
Ansicht, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Sie beeinträchtigen immer mehr
den Alltag der Gesellschaft und sind kein Minderheitenprogramm, sondern ein
Massenphänomen, das man in jeder Gesellschaftsgruppe findet. Von einer
Sensibilisierung diesen Krankheiten gegenüber würden alle Menschen profitieren.
derStandard.at: Sie schreiben im Buch, dass das Medieninteresse während des
Prozesses so etwas wie eine gerechte Strafe für Sie gewesen sei. Dass Sie es
verdient hätten, als Monster dargestellt zu werden.
Illigen: Gerechte Strafe ist wohl das falsche Wort, da Strafe nicht mein Thema ist.
Ich habe den Medien die Berichterstattung damals nicht übel genommen. Was hätten
sie denn anderes machen sollen? Jetzt fühle ich mich von den Medien nicht mehr als
Monster dargestellt. Ich fühle mich sehr kritisch dargestellt, das bringt allerdings das
Thema mit sich und ist auch legitim. Man darf da nicht eitel und gekränkt sein.
derStandard.at: Es gibt auch im derStandard.at-Forum User, die das Gefühl haben,
dass Sie bemitleidet werden wollen und sich selbst als Opfer darstellen.
Illigen: Ich glaube nicht, dass viele Menschen Mitleid mit mir haben, und habe auch
kein Interesse daran. Vermutungen darf man äußern. In einem Forum kann jeder
schreiben, was er will. Mehr ist es aber auch nicht. Internetforen sind prinzipiell voller
Trolle, die nichts anderes als Trolling machen. Ich glaube nicht, dass die Kritik gegen
mich persönlich gerichtet ist. Diese Äußerungen sind zu einem Teil medienkritisch.
Einige Menschen fragen sich sicher, warum man mir eine Plattform gibt. Ich habe
persönlich niemanden um ein Interview gebeten. Ich habe mich nicht selbst in die
Auslage gestellt, das haben andere gemacht.
derStandard.at: Wie war der Moment, als Ihnen der psychotische Grund für den
Mord an Ihrem Vater abhandengekommen ist?
Illigen: Schrecklich. Leere ist ein gutes Wort dafür. Es hat gedauert, bis ich die
Realität annehmen konnte. Das ist ein Prozess des Erwachens. Bei mir war die totale
Reizabschaltung in der Psychiatrie extrem wichtig. Zwei Wochen in einem weißen
Raum ohne Geräusch und ohne Wahrnehmung haben bedeutet, dass ich keine
Zeichen mehr interpretieren konnte. Während der Psychose sah ich diese überall. Es
gibt aber die These, dass Menschen erst recht Psychose bekommen, wenn man sie
in einen weißen Raum sperrt. Bei mir war das allerdings effektiv.
Der entscheidende Punkt war, dass ich nach drei Monaten dachte, dass ich gar nicht
psychotisch war, dass nur die Ärzte meinen, dass ich paranoid schizophren bin.
Dann habe ich versucht, die Stimme, die ich nicht mehr hörte, wieder zu hören. Es ist
mir nicht gelungen. Da habe ich gemerkt, dass ich keine Kontrolle darüber hatte.
Realität zeichnet sich aber dadurch aus, dass man Kontrolle über sie hat. Die
Einsicht ist katastrophal. Ich hatte überhaupt kein Vertrauen mehr in mich selbst.
Mein Ich war leer und ich stand vor dem Nichts. Dann musste ich mir das wieder
aufbauen. Und das war die Genesung.
derStandard.at: Wie gehen Sie mittlerweile mit der Schuld um, die mit Ihrer Tat
verbunden ist?
Illigen: Das ist kein neues Thema. Das beschäftigt mich seit Jahren und ist ein
Entwicklungsprozess. Es gibt verschiedene Phasen und Zustände. Ich habe während
der Arbeit an diesem Buch aber immer stärker das Gefühl gehabt, dass ich die
Schuld in etwas Produktives umwandle. Ein Effekt des Buches soll sein, dass ich die
Menschen für das Thema psychische Erkrankungen sensibilisiere. Ich bin mir sicher,
dass es irgendjemanden geben wird, der aufgrund dieses Buches bereit ist, sich
selbst Defizite und Fehler einzugestehen. Er wird darauf reagieren, wenn jemand zu
ihm sagt, dass er wirres Zeug redet oder denkt, und vielleicht merken, dass er
depressiv oder psychotisch ist. Wenn ich das bei einem erreiche, bin ich zufrieden.
derStandard.at: Hätte man Ihnen während Ihrer psychotischen Phasen helfen
können?
Illigen: Ja. Durch psychiatrische Behandlung. Von selber bin ich da aber nicht
rausgekommen. Das lag auch an mir, weil ich mit dem Thema psychiatrische
Erkrankungen davor nicht konfrontiert war und mich damit nicht beschäftigt habe. Ich
war der Meinung, dass es mich nicht treffen kann. Wenn ich davor bereits ein
Bewusstsein gehabt hätte, dass es auch mich treffen kann, hätte ich mir vielleicht
helfen lassen.
derStandard.at: Wie erklären Sie sich, dass Ihre Genesung so schnell
vonstattenging?
Illigen: Erstens liegt es daran, dass meine Psychose so intensiv und allumfassend
war. Wenn eine Psychose so intensiv ist, dass sie keine Grenzen mehr kennt, sind
die Heilungschancen am größten. Wenn das Ich total zerbröselt, ist nichts mehr da,
woran man sich festhalten kann, und man kann es wieder neu aufbauen. Wenn man
nur einen gewissen Level erreicht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Psychose
chronisch wird, viel größer. Dann sind noch immer ein Stückchen Realität und
Kontrolle da.
Zweitens liegt es auch an mir selber: an meinen Vorbedingungen, der Art, wie ich
erkrankt bin und wie ich an mir gearbeitet habe. Auch die Psychopharmaka und
Ärzte, die die Psychopharmaka angewendet, gewechselt und eingestellt haben,
haben ihren Teil dazu beigetragen.
Drittens werden die Menschen aus dem Maßnahmenvollzug nachhaltig stabilisierter
entlassen als aus einer Drehtürpsychiatrie. Die Therapie ist dermaßen intensiv und
mit großem Druck verbunden, dass es keinen Ausweg gibt. In der Anstalt, in der ich
war, hat ein Einziger von 20 Leuten einen psychotischen Rückfall bekommen. Das ist
in einer offenen Psychiatrie definitiv anders.
derStandard.at: Würden Sie sich als geheilt bezeichnen?
Illigen: Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich höre ständig von
meinen behandelnden Ärzten, dass man gar nicht geheilt werden kann. Aber wenn
man mich erlebt, ohne dass man von mir in der Zeitung gelesen hat, kommt man
nicht auf die Idee, dass ich schizophren sein könnte. Mein psychischer Zustand ist
so, dass er sich von einem gesunden Menschen nicht unterscheidet. Wahrscheinlich
träume ich nur ein wenig heftiger.
Ich habe keine Angst, dass ich wieder rückfällig werde. Dazu ist es zu lange her und
dazu ist die Behandlung zu intensiv. Es hätte im Maßnahmenvollzug genügend
Gründe gegeben, wieder psychotisch zu werden. Durch die ganzen Kontrollen und
die Überwachung. Wenn man sich verfolgt fühlt und dann in Räumen ist, die von
Kameras überwacht werden, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass das
im Fernsehen übertragen wird.
derStandard.at: Was sind die Auflagen für Ihre Entlassung gewesen?
Illigen: Ich habe eine Weisung, dass ich die Psychopharmaka nehmen muss. Diese
Weisung geht über insgesamt zehn Jahre. Also noch acht Jahre. So lange muss ich
es hundertprozentig nehmen. Unabhängig von meinem Gesundheitszustand oder
wie ich mich fühle und entwickle. Zusätzlich muss ich eine Psychotherapie machen
und habe einen Bewährungshelfer. Was dann ist, wird man sehen. Entweder wird die
Weisung verlängert, aufgehoben oder abgeändert. Das ist so weit entfernt. Darüber
mache ich mir keine Gedanken.
(Bianca Blei, derStandard.at, 15.2.2012)
Quelle:  http://derstandard.at/1328507697051/Tabu-thematisiert-Vatermoerder-
              Illigen-Mein-Ich-war-leer-und-ich-stand-vor-dem-Nichts
Interviews mit Mathias Illigen
Illigen ist heute ein freier Mann –
solange er sich an Auflagen hält.
Quelle: http://kurier.at/chronik/wien/das-gestaendnis-der-estibaliz-carranza/1.263.891
Mathias Illigen wirkt nicht wie ein Mörder. Auch nicht wie ein Geisteskranker. Er spricht
normal, mit Vorarlberger Einschlag, argumentiert reflektiert, gestikuliert nicht auffällig.
Nur die Beine lässt er vom Barhocker vor- und zurückbaumeln, als ein kleines Zeichen von
Nervosität. Aber er hat kein Problem, über seine Vergangenheit zu sprechen. Auch nicht
über jenen Tag Ende Jänner 2007, als seine Wahnvorstellungen einen Höhepunkt
erreichten – und er seinen Vater als Kopf einer Verschwörung gegen sich sah. Einer
Verschwörung, die sich im Lauf weniger Monate immer stärker in seinem Gehirn
festgesetzt hatte.
Begonnen hatte alles mit Peter Sloterdijk. Der Philosoph schien ihn in einem Seminar an
der Akademie der bildenden Künste ein paar Mal zu direkt anzublicken, ihn in seltsame
Gespräche zu verwickeln – oder ihn sogar zu überwachen. „Sloterdijk stellt mich auf die
Probe“, dachte Illigen. Auf einmal schien sich aber auch der Rest der Welt immer
seltsamer zu verhalten. Dunkel gekleidete Menschen machten ihm Angst, ihre Gesichter
erlebte der Student als Fratzen. Hoffnung gaben ihm dagegen Menschen in heller
Kleidung, die er als Engel wahrnahm. Auf einmal war da auch eine Stimme, die zu ihm
sprach. Und plötzlich sah er sich in einem Endkampf zwischen Gut und Böse – mit ihm als
Auserwähltem, der die Welt retten musste.
Überall vermutete er Kameras, die ihn beobachteten. Er wagte nicht mehr mit der U-Bahn
zu fahren, aus Angst, sich seinen Feinden auszuliefern. Selbst seine Geschwister sah er als
Handlanger Satans. Ernähren konnte er sich nur noch von hellen Lebensmitteln, weil er in
allen anderen Gift wähnte. Schließlich rief er seinen Vater in Vorarlberg an, weil er Geld
brauchte. Bei diesem Gespräch kam ihm plötzlich der Gedanke, dass es sein Vater sein
musste, der hinter der Verschwörung steckte. Illigen fuhr nach Dornbirn – und brachte ihn
um.
Wenige Tage später saß er in einer psychiatrischen Anstalt. Die Dämonen verschwanden,
auch die Stimme war plötzlich weg. Und spätestens, als ihm Gerichtspsychiater Reinhard
Haller „paranoide Schizophrenie“ attestierte, realisierte er, was er getan hatte. In Haft
musste Mathias Illigen nicht, dafür in Therapie. In mehreren psychiatrischen Einrichtungen
musste er daran arbeiten, wieder zu sich zu kommen. So weit, dass die Ärzte ihn so
einstuften, dass er wieder in die Freiheit durfte. Hinaus aus der Anstalt. Knappe vier Jahre
später war es so weit – er galt als stabil. Und als nicht mehr gefährlich. Vier Jahre, das ist
wenig im Vergleich zu einem Mörder, der 15, 20 oder noch mehr Jahre im Gefängnis
verbringen muss. Doch so sieht es das Gesetz vor. Bei Unzurechnungsfähigkeit geht es
nicht um Strafe, sondern darum, dass die Bevölkerung geschützt wird. So lange, bis die
Krankheit abgeklungen oder geheilt ist.
„Nicht wie Breivik“. Paranoide Schizophrenie – die gleiche Diagnose wurde in einem
Gutachten auch Anders Behring Breivik gestellt, dem Attentäter von Oslo, der im Juli 2011
für den Tod von 77 Menschen verantwortlich war. Ein Vergleich, der Mathias Illigen nicht
besonders glücklich macht. „Für mich ist es unvorstellbar, dass jemand mit einer
schizoiden Persönlichkeitsstörung einen Anschlag drei Jahre lang so präzise vorbereitet“,
sagt er. „Das war einfach ein politisches Attentat.“
Und doch macht der Verlag, in dem Illigen seine Erlebnisse nun als Buch herausbringt,
genau damit Werbung. Ein Schönheitsfehler, wie er meint, auf den er keinen Einfluss
gehabt habe. „Ich oder ich“ heißt das Werk – ein „Tatsachenroman“, wie im
Verlagsprogramm steht. Die Idee dahinter: „Meine eigene Geschichte erschien mir so
unglaublich, dass ich sie erzählen wollte.“
Das Buch sei kein Teil der Therapie gewesen, sondern „ein Abschluss einer Lebensphase“.
Illigen fühlt sich heute gut. Er muss auch die nächsten Jahre regelmäßig zur Behandlung,
Medikamente nehmen, laufend zu einem Bewährungshelfer – und auf seine Gesundheit
achten, denn Stress, Alkohol oder Drogen können unter Umständen dazu führen, dass es
wieder zu psychotischen Schüben kommt. Aber abgesehen davon kann er sich frei
bewegen. Und trotzdem – eines, sagt er, werde er wohl nie loswerden, nämlich seine
Schuldgefühle. Daran ändere auch die vom Gericht festgestellte Schuldunfähigkeit nichts.
Quelle:  http://diepresse.com/home/leben/mensch/725786/Mathias-Illigen_Ich-habe-getoetet
Rückblick auf die Tat des Mathias Illigen und 
seine Krankheit (“paranoide Schizophrenie”):