“Im Wahlkampf hatte sie zum ersten Mal aus der Stille des eleganten Büros
der Firmenchefin in den ungeschützten Raum der Öffentlichkeit zu treten.
Hier traf sie auf Reporter und Wähler, stand plötzlich im Scheinwerferlicht
der Fernseh-karmeras.
Dabei wurde ein Problem offenbar. Wer sich an die ersten Schritte der
JeESU-Präsidentin auf öffentlicher Bühne erinnert, ist verblüfft, wie wenig
die damalige Julia Timoschenko dem Bild ähnelt, das heute jeder kennt. Es
fiel ihr unge-heuer schwer, mit unbekannten Menschen zu kommunizieren.
Das sahen nicht nur die Fernsehleute. Das grelle Scheinwerferlicht blendete
sie und machte sie unsicher. Plötzlich zeigte sich, dass sie trotz ihres
blendenden Aussehens noch nicht gelernt hatte, sich in der Öffentlichkeit zu
bewegen. Unvermittelt versagte ihr die Stimme. Sie hat ihre Körpersprache
nicht im Griff: Bald krampft sie die Händer zu Fäusten zusammen, bald fährt
sie sich durchs Haar und verdirbt die Frisur. Sie wirkt gehemmt. Ihr Gang
verändert sich, und sie blickt gehetzt um sich.
All das ist allerdings merkwürdig. In geschäftlichen Verhandlungen, wo
wesentlich wichtigere Fragen mit Leuten besprochen werden, die viel furcht-
erregender sind als gewöhnliche Wähler, wirkt sie geradezu überlegen. Sie
kann naiv und vertrauensselig dreinschauen, Bein zeigen, die Situation mit
einem Lächeln entspannen oder einen zu selbstbewussten Partner unvermittelt
hart anfahren. Wenn nötig, kann sie kalt wirken oder vertrauliche Nähe
imitieren. Aber das ist ihre Welt, in der sie sich zu Hause fühlt. Ihre Bühne,
ihre Akteure, ihre Zuschauer, ihre Rollen, die sie auswendig kennt.
In diesem Kreis ist sie bereits Legende. Hier gilt sie als die perfekte
Schauspie-lerin. Dafür achtet man sie, misstraut ihr, hasst sie oder ist von ihr
begeistert. Auf jeden Fall spielt sie immer die Hauptrolle.
Wie soll man das verstehen? Ist sie eine Mimin des Kammerspiels, die sich
auf großer Bühne verloren vorkommt? Kann sie nicht auf freien Plätzen
auftreten? Sie, die jeden mächtigen Geschäftsmann um die Finger wickelt,
soll vor der Fernsehkamera keine Wirkung entfalten? Damit kann sich Julia
Timoschenko nicht abfinden.
1996 heuert sie professionelle Imageberater an, die ihr die ungelenken Gesten
austreiben, ihr erklären sollen, wie man in einer Menschenmenge, auf der
Bühne eines Dorfklubs oder im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras eine
gute Figur macht.
Die Wähler des Kirowograder Gebietes erleben als Erste die Geburt der Julia
Timoschenko, die bald von der Tribüne des Parlaments das “volksfeindliche
Regime” brandmarken, die in der landesweiten Kampagne “Eine Ukraine
ohne Kutschma” auf den Straßen Tausende Demonstranten anführen und im
November 2004 schließlich auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit,
zum Erzengel mutieren wird. (...)
Zusammen mit ihren Beratern findet sie die unfehlbare Erfolgsformel für
diese Wählerschaft. Sie muss schön sein, darf aber nicht herausfordernd
wirken. Auffällige Kleider oder teurer Schmuck verbieten sich von selbst. Sie
ist be-scheiden und freundlich wie eine Lehrerin vom Lande. Ihre Antworten
auf die Fragen der Journalisten und Wähler müssen einfach und radikal
klingen. Knauserig darf sie nicht wirken. Zwar soll sie nicht übertreiben, aber
ihre Riva-len haben bereits im gesamten Gebiet das Gerücht verbreitet, eine
Millionärin aus Dnipropetrowsk habe sich in das gottverlassene Gebiet
Kirowograd aufgemacht, um aus dem Hubschrauber Geld zu streuen ...
Julia Timoschenko steigt aus dem gewohnten Mercedes in einen schlichten
Wolga um und fährt mit ihrer Mannschaft über holprige Wege auch ins letzte
Dorf. Der Wahlkampf ist kurz - er dauert ganze zwei Monate. Aber er ist sehr
intensiv. Ihr Hauptziel ist es, den Wählern zu beweisen, dass es noch Wunder
gibt.”