Bergoglios Arbeit in Argentinien und sein kompromissloser Einsatz für die Armen
beschreibt eine Ordensoberin, die selbst lange Zeit in Lateinamerika gearbeitet hat, in
einem Gespräch mit  Andreas Englisch folgendermaßen:
„Man muss sich entscheiden als Priester in Lateinamerika“, sagte sie, „entweder
man entscheidet sich für den einen, schwierigen Weg wie Bergoglio oder den
anderen.“
Und sie erklärt dies folgendermaßen: „Sehen Sie“, sagte sie. „In den weißen,
reichen Familien in Lateinamerika, in Chile, Brasilien oder Argentinien arbeiten
oft Mischlingsmädchen aus den Slums. Die meisten werden von den Padronas
ausgenutzt, geschlagen, niedergemacht. Nachts kommen die Ehemänner in die
Zimmer der Mädchen und vergewaltigen sie, als wären sie Vieh. Unter den
halbwüchsigen Söhnen der Reichen ist es eine ganz normale Art von Gewalt, den
Hausmädchen nachzustellen und sie manchmal zusammen mit dem Vater zu
vergewaltigen. Die Ehefrauen nehmen das oft hin, dann gehen ihre Männer
immerhin nicht zu den Huren und holen sich keine Krankheiten. Wenn die
Mädchen schwanger werden, schmeißen die Padronas sie raus, enthalten ihnen oft
ihren Lohn vor, beschimpfen sie als Huren und schicken sie in die Slums zurück,
aus denen sie gekommen sind.“
In den Augen der Ordensfrau flackerte eine maßlose Empörung auf. „Jetzt gibt es
zwei Arten von Priestern in Lateinamerika, nur zwei. Die einen bringen in den
teuren Eliteschulen Lateinamerikas den Söhnen der Reichen, die nachts die
Mischlingsmädchen brutal quälen, Mathematik, Latein und die Lehre der Kirche
bei. Sie dienen sich als eine Art privater Beichtvater an, nehmen Platz an den
gewaltigen Tafeln der Reichen, fahren mit in die vornehmen Ferienhäuser. Das ist
die eine Art von Priestern. Es gibt aber auch noch eine zweite, die suchen diese
schwangeren, wie auf den Müll geworfenen Mischlingsmädchen auf, um ihnen zu
helfen, das Kind großzuziehen, trotz der Armut, und nicht in die Falle der Drogen
und der Prostitution zu tappen. In Lateinamerika müssen sich die Priester
entscheiden: Entweder sie stehen auf der einen Seite oder auf der anderen.“ (…)
„Bergoglio weiß ganz genau, wo er steht: auf der Seite von denen, die unten sind,
ganz weit unten.“
Quelle: Andreas Englisch, „Franziskus - Zeichen der Hoffnung“,
               2013 C.Bertelsmann Verlag, München, S.229ff.