Der Europäische Gerichtshof (EuGH), amtlich nur Gerichtshof genannt, mit
Sitz in Luxemburg ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen
Union (EU).
Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV sichert er „die Wahrung des Rechts bei
der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Zusammen mit dem
Gericht der Europäischen Union und dem Gericht für den öffentlichen
Dienst der Europäischen Union bildet er das Gerichtssystem der Europäi-
schen Union, das im politischen System der Europäischen Union die Rolle
der Judikative einnimmt.
Die Aufgaben des EuGH sind in Art. 19 EU-Vertrag, den Art. 251 bis 281
AEU-Vertrag sowie der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union
festgeschrieben.
Dazu zählt insbesondere, die einheitliche Auslegung des Rechts der
Europäischen Union sowie der Europäischen Atomgemeinschaft zu
gewährleisten.
Der EuGH selbst ist bei direkten Klagen natürlicher und juristischer Perso-
nen nunmehr als Rechtsmittelinstanz für Entscheidungen des Europäischen
Gerichts zuständig. Das Europäische Gericht ist – von wenigen
Ausnahmen abgesehen – auch für Klagen der Mitgliedstaaten gegen die
Europäische Kommission im dritten Rechtszug zuständig.
Für Klagen der Europäischen Kommission (v. a. Vertragsverletzungs-
verfahren), Klagen anderer Organe der Europäischen Union oder der
Mitgliedstaaten, die nicht gegen die Kommission gerichtet sind, sowie für
die Entscheidungen im Vorabentscheidungsverfahren ist der EuGH allein
zuständig.
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Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEU-Vertrag): Die
Europäische Kommission kann einen Mitgliedstaat − nach einem
Vorverfahren − vor dem EuGH verklagen. Der EuGH prüft dann, ob
ein Mitgliedstaat seinen sich aus dem Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union ergebenden Verpflichtungen nicht nachge-
kommen ist. Dem EuGH wird eine Klageschrift zugestellt, die
teilweise im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und
dem Beklagten zugestellt wird. Je nach Fall kommt es zu einer
Beweisaufnahme und einer mündlichen Verhandlung. Im Anschluss
daran gibt der Generalanwalt seine Schlussanträge ab. Darin macht er
einen Urteilsvorschlag, an den der EuGH jedoch nicht gebunden ist.
Gemäß Art. 259 AEU-Vertrag kann auch ein Mitgliedstaat gegen
einen anderen vor dem EuGH (nach einem Vorverfahren durch Ein-
schaltung der Kommission, Art. 259 Abs. 2 bis 4 AEU-Vertrag)
vorgehen.
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Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEU-Vertrag): Die
nationalen Gerichte können bzw. müssen, soweit es sich um die letzte
Instanz (zum Beispiel Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof) handelt,
dem EuGH Fragen hinsichtlich der Auslegung des Rechts der Euro-
päischen Union vorlegen. Außerdem können sie überprüfen lassen,
ob ein europäischer Gesetzgebungsakt gültig ist. Dies soll in beson-
derem Maße die einheitliche Anwendung des Rechts der Europäi-
schen Union durch die nationalen Gerichte, die für dessen Durch-
setzung zu sorgen haben, sicherstellen.
Das nationale Gericht muss in seiner Verhandlung auf die Auslegung
bzw. Gültigkeit des Rechts der Europäischen Union angewiesen sein
(sie muss entscheidungserheblich sein und die Auslegung darf nicht
bereits geklärt sein), um eine Frage vorlegen zu dürfen. Es unter-
bricht dabei sein Verfahren bis zur Antwort des EuGH. Die vorge-
legte Frage wird zunächst in alle Amtssprachen übersetzt und im
Amtsblatt bekanntgegeben. Dies gibt den beteiligten Parteien, sämt-
lichen Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union die
Möglichkeit, Stellungnahmen abzugeben. Wiederum folgen i. d. R.
eine mündliche Verhandlung sowie Schlussanträge des General-
anwalts, bevor es zu einem Urteilsspruch kommt. Das vorlegende
Gericht (und andere Gerichte in ähnlichen Fällen) sind an das Urteil
des EuGH gebunden.
Verfahrenssprache kann jede Amtssprache der Europäischen Union sein.
Die Auswahl fällt der Klage erhebenden Partei zu, beim Vorabentschei-
dungsverfahren ist es die Sprache im Mitgliedsland des anfragenden
Gerichts, bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat wird dessen Amtssprache
(ggf. auch mehrere) Verfahrenssprache. Diese Regelung soll sicherstellen,
dass jeder Angehörige der Europäischen Union in seiner Sprache Rechts-
handlungen vornehmen kann. Alle Verfahrensdokumente werden in die
Verfahrenssprache sowie ins Französische – traditionell die interne Arbeits-
sprache des EuGH, was allerdings zunehmend, vor allem auch von osteuro-
päischen Staaten, kritisiert wird – übersetzt, Vorabentscheidungsersuchen
und die Urteile, dann, wenn sie zur Veröffentlichung bestimmt sind, des
EuGH in alle Amtssprachen. Äußerungen des Generalanwalts, der sich in
seiner eigenen Sprache äußern kann, werden in die Verfahrenssprache(n)
und alle Amtssprachen übersetzt.
EuGH und das Europäische Gericht unterhalten einen gemeinsamen
Übersetzungsdienst, der eine eigene Direktion (mit 20 Sprachabteilungen
und einer Abteilung Allgemeine Dienste) bildet. Die Übersetzer beim
EuGH verfügen alle über eine abgeschlossene juristische Ausbildung und
werden auch als „Sprachjuristen“ („Lawyer-Linguists“) bezeichnet.
Mündliche Verhandlungen beim EuGH werden von Konferenzdolmetschern
simultan übersetzt. Der EuGH unterhält dafür einen Dolmetscherdienst mit
beamteten Dolmetschern und zieht bei Bedarf freiberuflich tätige Dolmet-
scher hinzu.
Bei der Auslegung von Rechtsnormen des Rechts der Europäischen Union
durch den EuGH ergeben sich einige Besonderheiten gegenüber den
gewöhnlichen juristischen Auslegungsmethoden, die sich bereits bei der
Auslegung des Unionsrechts gebildet haben.
Die erste Besonderheit liegt darin, dass die Rechtsquellen des Rechts der
Europäischen Union keine einheitliche, verbindliche sprachliche Fassung
kennen, sondern derzeit in 24 verschiedenen Sprachen verbindlich sind, was
sich aus Art. 55 EU-Vertrag ergibt. Bei abweichendem Sinn verschiedener
Sprachfassungen stößt die reine Wortlautauslegung daher an ihre Grenzen,
und die zusätzliche Verwendung rechtsvergleichender, systematischer oder
teleologischer Argumente wird notwendig.
Des Weiteren ergeben sich Auslegungsprobleme aus der sprachlichen
Ungenauigkeit des Primärrechts – sie ist Folge schwieriger politischer
Willensbildungsprozesse, an denen eine Vielzahl von Organen bzw.
Personen beteiligt ist.
So beschränken sich viele Normen auf allgemeine Formulierungen, um den
Organen der Europäischen Union einen Entscheidungsspielraum zu
gewähren und eine dynamische Interpretation zu ermöglichen. Auch sind
die in den Verträgen verwendeten Begriffe autonom, d. h. mit unionsrecht-
lichen Bedeutungen, zu verstehen und können nicht dem Sprachgebrauch
einzelner Mitgliedstaaten entnommen werden. Der EuGH bedient sich hier
bei der Suche nach systematischer Geschlossenheit oft der sog. „wertenden
Rechtsvergleichung“, wobei er in den nationalen Regelungen nach der
besten Lösung sucht.
Weitere Besonderheiten zeigen sich bei der Auslegung der Verträge nach
Sinn und Zweck. So handelt es sich etwa bei dem Effektivitätsgrundsatz
(„effet utile“) um eine besondere Form der Auslegung nach Sinn und
Zweck, nämlich die nach den Vertragszielen.
Demnach sollen die einzelnen Bestimmungen der Verträge so ausgelegt
werden, dass sie die größtmögliche Wirksamkeit entfalten. Insbesondere die
Berufung auf den „effet utile“ benützt der EuGH häufig, um Normen des
Primärrechts teilweise erheblich über den Wortlaut hinaus auszudehnen und
der Gemeinschaft Kompetenzen und Befugnisse zukommen zu lassen,
die ursprünglich so nicht vorgesehen waren.
Urteile des EuGH, soweit sie im Wege eines Vorabentscheidungs-
ersuchens nach Art. 267 AEU-Vertrag (oder einer Vorgängerbestimmung,
wie Art. 234 EG-Vertrag) ergangen sind, dienen zunächst dazu, dem vorle-
genden nationalen Gericht die Entscheidung im Ausgangssachverhalt zu
ermöglichen. Grundsätzlich bindet die EuGH-Entscheidung durch die
Auslegung des Rechts der Europäischen Union nur das anfragende Gericht,
dessen Urteil wiederum theoretisch nur für den entschiedenen Einzelfall
gilt.
Die faktische Wirkung eines EuGH-Urteils ist jedoch ungleich größer,
sie geht weit über den einzelnen Sachverhalt, der zur Vorlage geführt
hat, hinaus. Da der EuGH für alle Mitgliedstaaten verbindlich das Recht
der Europäischen Union auslegt, gilt die Norm des Recht der Europäischen
Union, so wie sie durch die im Urteil verkündete Auslegung zu verstehen
ist, für alle Mitgliedstaaten und − in der Regel − ex tunc, d. h. rückwirkend.
Anders formuliert: Der EuGH stellt fest, wie eine Vorschrift des Recht
der Europäischen Union immer schon und von allen hätte verstanden
werden müssen.
Eine unbegrenzte Rückwirkung der Urteile wird jedoch gegebenenfalls
durch die nationalen Verfahrensrechte verhindert, insoweit als sie regeln,
dass ein bestandskräftiger Verwaltungsakt oder ein bestandkräftiges gericht-
liches Urteil ohne gesonderte Vorschrift nicht mehr geändert werden kann.
Von 1953 bis Ende 2013 hat der EuGH in etwa 17.900 Rechtssachen
Urteile oder Beschlüsse erlassen. Derzeit werden jährlich jeweils etwa
700 Verfahren anhängig gemacht und abgeschlossen.
Eigenständige Rechtsordnung der Europäischen Union
Eine der wichtigsten Entscheidungen des EuGH ist das Urteil in der Sache
„Van Gend & Loos“ von 1963. In dieser Entscheidung begründete der
EuGH die Doktrin, dass es sich beim europäischen Unionsrecht um eine
selbstständige Rechtsordnung sui generis handele, die von dem Recht der
Mitgliedstaaten losgelöst sei. Dies bedeutete eine Abkehr von der bis dahin
vorherrschenden Auffassung, es handle sich beim Recht der europäischen
Union um gewöhnliches Völkerrecht.
Die Entscheidung hat große Bedeutung und sorgte in der Fachwelt für
Aufsehen, da der EuGH damit auch begründete, dass Subjekte des
Europarechts nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die
einzelnen Bürger seien.
Aus der in Van Gend & Loos begründeten Doktrin von der Eigenständigkeit
des Europarechts entwickelte der EuGH 1964 in der Entscheidung „Costa/
ENEL“ die weitere Doktrin vom Vorrang des Europarechts gegenüber
dem Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich dessen Verfassungs-
rechts.
In diesen und den darauf folgenden Entscheidungen betonte der EuGH
immer wieder, dass sich die Mitgliedstaaten freiwillig einer Union mit
eigenständiger Rechtsordnung unterworfen haben. Dass es sich hierbei um
eine Rechtsordnung und nicht bloß um ein politisches Zweckbündnis
handelt, zeigt sich vor allem in solchen Entscheidungen des EuGH immer
wieder.
Eine gleichermaßen wichtige Entscheidung des EuGH im Zusammenhang
des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten ist die Cassis-de-
Dijon-Entscheidung von 1979. Darin untersagte der EuGH Deutschland,
Anforderungen an ein Produkt zu stellen, die es in seinem Herkunftsland
nicht erfüllen muss. Die Entscheidung führt zum Prinzip der „wechsel-
seitigen Anerkennung“ der nationalstaatlichen Produktstandards, die jedoch
durch sogenannte allgemein gültige Mindeststandards oder Schutzklauseln
beschränkt sind. Zum Beispiel Verbraucher- und Umweltschutz.
Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs
Die nationalen Steuervorschriften innerhalb der Europäischen Union sind
vor allem im Bereich der direkten Steuern noch kaum harmonisiert (anders
die indirekten Steuern, die über die Mehrwertsteuerrichtlinien stark verein-
heitlicht wurden).
Die Europäische Union hat in diesem Bereich nur dann die Befugnis,
Rechtsvorschriften zu harmonisieren, wenn dies im Hinblick auf das Funk-
tionieren des Europäischen Binnenmarktes erforderlich ist (Art. 113 AEU-
Vertrag). Überdies ist eine Einstimmigkeit im Rat erforderlich. Daher ist es
im Bereich der direkten Steuern nur in wenigen Bereichen zu einer Harmo-
nisierung gekommen, beispielsweise im Rahmen der Mutter-Tochter-
Richtlinie und der Fusionsrichtlinie.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten
allerdings bei Ausübung der ihnen verbleibenden Kompetenz die Schran-
ken, die Ihnen das Recht der Europäischen Union auferlegt, beachten.
Das heißt, dass, obwohl die Ausgestaltung des nationalen Steuerrechts
Teil der Souveränität der Nationalstaaten ist und bleibt, das Ergebnis
der Kompetenzausübung, also die nationalen Steuergesetze, nicht
gegen Recht der Europäischen Union, insbesondere nicht gegen die
Grundfreiheiten, verstoßen dürfen.
Weitere wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
- Francovich-Entscheidung: Dem einzelnen Bürger steht bei einer
Verletzung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat ein Anspruch auf
Ersatz zu, wenn dem Einzelnen durch den staatlichen Verstoß ein Schaden
entstanden ist.
- 1993: Keck-Entscheidung (Legitimationen der Einschränkung der
Marktfreiheit)
- LATA und ELFAA: Der Wortlaut von Art. 251 EG-Vertrag (vgl. Art.
294 AEU-Vertrag) schränkt somit die Maßnahmen des Vermittlungsaus-
schusses, die eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf (zwischen
Rat und Europäischem Parlament) ermöglichen sollen, inhaltlich nicht ein.
(C-344/04)
- Kreil-Entscheidung: Das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes
vom 22. Januar 2000 öffnete Frauen die Bundeswehr in allen Bereichen.
Der EuGH selbst nennt daneben unter anderem die Urteile Kraus und
Bosman zur Freizügigkeit, die Urteile Kohll und Decker zur Dienst-
leistungsfreiheit und die Urteile Defrenne und Johnston zur Gleich-
behandlung.
Hauptkritikpunkt an der Entscheidungspraxis des EuGH ist in Teilen der
Rechtswissenschaft, dass er europäisches Unionsrecht unzulässig auf natio-
nale Rechtsfelder ausdehne und damit seine Kompetenzen überschreite. Zu
selten habe er dagegen rechtswidrige Maßnahmen der europäischen Organe
als solche gekennzeichnet. Roland Vaubel wirft dem Europäischen
Gerichtshof vor, politisch als „Motor der europäischen Integration“ zu
urteilen bis hin zu „Rechtsbrüchen“.
dort gibt es weitere Quellenangaben, Stand August 2016