Konstitutionalisierung der Verträge
Zwar blieb die Rechtsgrundlage der EU ihrer Rechtsnatur nach ein
völkerrechtlicher Vertrag. Die Mitgliedsstaaten behielten ihre Stellung als
„Herren der Verträge“. Nur sie bestimmen über die Rechtsgrundlage der EU.
Sie wirkte aber aufgrund dieser Rechtsprechung wie eine Verfassung.
Es gab nun neben der politischen Integration durch Vertragsschluss und
Setzung sekundären europäischen Rechts einen alternativen, judikativen
Integrationspfad durch Überwindung der nationalen Rechtsvielfalt mittels
Vertragsinterpretation.
Erst dadurch ist die EWG / EG / EU zu dem geworden, was sie heute ist: eine
singuläre supranationale Einheit irgendwo zwischen internationaler Organi-
sation und Bundesstaat.
Alles hing unter diesen Umständen davon ab, wie der EuGH die Verträge
verstand. 
Ansatzpunkt waren die vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten (freier Verkehr von
Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital) und ihre nähere Aus-
formung in den Verträgen.
Auch sie waren ursprünglich als Maßgaben für den Gesetzgeber bei der Her-
stellung des Gemeinsamen Markts gedacht. Nationales Recht, das ausländi-
sche Wettbewerber zugunsten der einheimischen Wirtschaft benachteiligte,
sollte abgebaut werden.
Die Rechtssprechung des EuGH machte sie zu Grundrechten der Wirtschafts-
subjekte. So bekam die Justiz die Sache in die Hand. Der Gesetzgeber wurde
zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes nicht mehr benötigt.
Der EuGH wirkte dafür umso entschlossener. So erweiterte er die Diskriminier-
ungsverbote zu Regulierungsverboten. Jede Ware, die in einem Mitgliedsstaat
legal hergestellt worden war, durfte in jedem anderen Mitgliedsstaat ohne
Rücksicht auf das dort geltende Recht in Verkehr gebracht werden.
Mehr noch: Jede staatliche Norm, die sich als Hemmnis für den grenzüber-
schreitenden Handel erwies, verfiel potentiell dem Verdikt.
Die europäische Vorschrift, die nur „mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen
und Maßnahmen gleicher Wirkung“ verboten hatte, war damit entgrenzt.
Unter den Verdacht der Europarechtswidrigkeit gerieten auch Normen, die kein
diskriminierendes Motiv hatten, nicht einmal ein wirtschaftliches Motiv, son-
dern dem Schutz andere Rechtsgüter dienten, Gesundheitsschutz, Umwelt-
schutz, Arbeitsschutz usw.
Dem nationalen Gesetzgeber war damit die Möglichkeit genommen, diejenigen
Schutzstandars festzulegen, die ihm politisch notwendig erschienen.
Das begründete die Gefahr, dass sich der niedrigste Schutzstandard europa-
weit durchsetzte.
Dieser Gefahr konnte allein durch europäische Rechtsetzung begegnet werden.
Die weite Interpretation der wirtschaftlichen Grundfreiheiten weitete also auto-
matisch auch die Rechtsetzungsbefugnis der EU aus.
Es war freilich leichter, nationales Recht zu beseitigen, als europäisches Recht
zu erzeugen. Für die Unanwendbarkeit nationalen Rechts genügte ein Bescheid
der Kommission oder ein Richterspruch.  Für die Setzung europäischen Rechts
war ein einstimmiger Ratsbeschluss nötig. Das gelang manchmal, oft aber
auch nicht.
Die Folge war die bekannte Asymmetrie zwischen negativer (normvernichten-
der) und positiver (normerzeugender) Integration und ihr wirtschaftsliberaler
Effekt.
Eine ähnliche Ausweitung erfuhr das in den Verträgen enthaltene Verbot staat-
licher Beihilfen an Unternehmen, falls die Beihilfen marktverzerrende Wirkun-
gen hatten.
Der EuGH wandte diese Vorschrift nicht nur auf privatwirtschaftliche Unterneh-
men an, sondern auch auf öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge.
Sofern es für die betreffenden Leistungen private Wettbewerber gab, gleich ob
inländische oder ausländische, wurde die staatliche Finanzierung der öffent-
lichen Einrichtungen zur Beihilfe und war potentiell marktverzerrend.
Infolgedessen konnten die Mitgliedsstaaten nicht mehr frei entscheiden,
welche Bereiche sie der Steuerung durch den Markt überlassen, welche sie in
eigene Regie nehmen wollten. Die Gemeinwohlgründe, aus denen bestimmte
Leistungen  dem Markt entzogen waren, spielten dabei keine Rolle.
Ein Teil der Privatisierungswelle der letzten Jahre hat hier ihren Grund.“
Quelle: Dieter Grimm, “Europa ja - aber welches?”, 
            Verlag C.H.Beck oHG, Müchen 2016, S.13ff.