Dieter Grimm sieht dafür mehrere Gründe:
1. Häufig sind die Entscheidungen nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt
worden. So wird die fallübergreifende Wirkung eines Urteils oft erst sichtbar,
wenn es sich zur „ständigen Rechtssprechung“ verdichtet hat.
2. Der Rat bildet kein ausreichendes Gegengewicht gegen EuGH.
Der Rat vertritt zwar die Interessen der Mitgliedsstaaten, aber diese haben oft
kein einheitliches Interesse. Deshalb lassen sich Einstimmigkeit, wie sie viele
Jahre im Rat üblich war, aber auch qualifizierte Mehrheiten, wie sie heute
ausreichen, gerade für den Zweck der Korrektur von Rechtssprechungen nur
schwer zustande bringen. Abgesehen davon ist der Rat bei der Setzung von
Sekundärrecht auf eine Initiative der Kommission angewiesen. Und die hat
wiederum an einer Korrektur der Rechtssprechung in der Regel kein Inter-
esse…
3. Ein weiterer Grund, der bis jetzt kaum erkannt worden ist, liegt in der
Eigentümlichkeit der europäischen Verträge. Denn obwohl diese ihrer
Rechtsnatur nach völkerrechtliche Verträge sind, sind sie dank der Rechts-
sprechung des EuGH konstitutionalisiert. Das heißt, sie entfalten die Wirkung
von Verfassungen, sind aber nicht nach Art einer Verfassung gestaltet.
Verfassungen regeln den politischen Entscheidungsprozess formell und
materiell, aber sie überlassen die politischen Entscheidungen selbst der Politik
und machen dadurch erst die Wahl erfolgreich. Die siegreiche Partei verwirk-
licht ihr Regierungsprogramm durch Gesetzgebung, freilich im Rahmen der
Verfassung.
Je stärker die Verfassung inhaltlich aufgeladen ist, desto kleiner wird der
Spielraum für die Politik. Was in der Verfassung geregelt ist, ist der politischen
Entscheidung entzogen. Es ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse der
Politik. Es kann auch durch den Wahlausgang nicht beeinflusst werden.