Jürgen Roth beschreibt einige Protestaktionen gegen die “Troika” sowie die
Gründe und Hintergründe dafür folgendermaßen (denn auch das wird in den
Mainstream-Medien großteils verschwiegen...):
„22. April 2013, Berlin, das noble Restaurant Borchardt am Berliner Gen-
darmenmarkt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der polnische Minister-
präsident Donald Tusk haben sich zu einem privaten Abendessen getroffen
und werden am nächsten Tag über Europafragen diskutieren.
Fünf Monate später, 14. September 2013, ein grauer, kühler Tag mit tiefen,
dunklen Wolken über Warschau. In der Mitte des „Rondo de Gaulle’a“ steht
eine riesige künstliche Palme. Von hier aus marschieren über 100.000
Gewerkschafter aus allen Teilen Polens unter ohrenbetäubenden Lärm
Richtung polnisches Parlament, dem Sejm. Ihr Motto lautet: „Genug mit der
Missachtung der Gesellschaft.“
Der polnische Außenminister hatte Oppositionelle als „Hunde, denen man die
Kehle durchscheniden soll“, bezeichnet. Auf den Transparenten der „Hunde“
steht under anderem: „Schluss mit der Erpressung durch die Banken.“,
„Beschlagnahmt das Vermögen, das sie uns gestohlen haben“, „Stürzt die
Regierung“, „Wir verlangen Würde“.
Durch schwere Ketten miteinander verbunden marschieren Arbeiter mit
einem Plakat: „Wir wollen keine Sklaven sein“, steht darauf.
Ihre Forderungen sind identisch mit denen der Arbeitnehmer in Griechen-
land, Portugal oder Spanien: achtstündiger Arbeitstag, gerechte Entlohnung,
die Aufrechterhaltung der bisherigen Renten- und Pensionsleistungen, mehr
Geld für die Finanzierung des Bildungswesens, keine weiteren massenhaften
Schließungen von Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen und sozialen Ver-
sorgungseinrichtungen.
Joanna Wasala, 58 Jahre, ist Vorsitzende des Verbands der polnischen
Lehrer. Wie alle anderen Lehrer trägt sie einen Überzieher mit dem Europa-
signum und den polnischen Nationalfarben Weiß und Rot. „Wir sind nicht
gegen Europa, aber nicht zu diesen Bedingungen“, erklärt sie. Die Lehrer
protestieren, ebenso wie Arbeiter, Angestellte, Ärzte und städtische Bediens-
tete aus allen Teilen Polens, gegen den radikalen Sozialabbau durch die
konservative Regierung Tusk.
Allein zwischen Juni und September 2013 wurden zum Beispiel 700 Lehrer
auf die Straße gesetzt und unzählige Schulen geschlossen. Angestellt wurden
Lehrer nur noch als Halbtagskräfte mit einem Verdienst von 200 Euro.
„Damit können wir nicht mehr leben“, sagt sie. „Bisher hat der Staat uns alle
sieben Jahre einen Gesundheitsurlaub bezahlt, jetzt sind es alle zwanzig
Jahre. Und wie sollen wir das aushalten, wenn wir bis 67 arbeiten müssen?“
In ihrer Nähe steht eine 38-jährige Sozialarbeiterin, die wie die meisten
Demonstranten in eine Vuvuzela bläst. „Wir zahlen Krankenversicherung
und müssen trotzdem bei den Krankenhäusern und Ärzten zahlen, das kön-
nen wir überhaupt nicht – bei einem Monatslohn von 300 Euro.“ Sie bricht in
Tränen aus. „Ich bin schwanger und muss zum Arzt, aber ich kann es mir
nicht leisten.“
Neu sind in Polen die sogenannten Müllarbeitsverträge. Sie enthalten keine
Sozialleistungen, sind jederzeit kündbar, und Überstunden werden nicht
extra bezahlt. „Ich fühle mich wie Müll“, sagt ein Demonstrant, „das ist
Ausbeutung, Sklaverei – da bleibt uns nur die Schwarzarbeit.“ (S.35ff.)
Prekär ist die Situation für die arbeitende Bevölkerung auch in Griechen-
land, das ja schon länger unter der rigorosen „Sparpolitik“ der Troika leidet.
Auch hier gab es im Jahr 2013 Demonstrationen von wütenden und ver-
zweifelten Menschen:
„Athen, 14. Juli 2013, eine kleine Bar nahe der Ermou-Straße. Einst war sie
die Edeleinkaufsmeile schlechthin. Heute sind die Geschäfte entweder ver-
barrikadiert und mit bunten Graffiti bemalt, oder es werden billige Schuhe,
Kleidung und Plastikwaren made in China angeboten. Andererseits ist die
Straße noch immer von Leben erfüllt, verglichen mit manchen tristen Ein-
kaufsstraßen zum Beispiel in Duisburg.
Margarita ist eine 24jährige Krankenschwester, die in einem 40 Quadrat-
meter großen Apartment lebt. Sie war eine lebenslustige junge Frau - „bis
vor wenigen Tagen“, sagt sie. Von einem Tag auf dem anderen ist ihre Welt
zusammengebrochen. Da hat sie erfahren, dass ihr wie vielen anderen
Krankenschwestern und Ärzten, gekündigt werden wird – eine der zahl-
reichen Auflagen der Troika, um die Zahl der öffentlich Bediensteten radikal
zu reduzieren. In wenigen Minuten will sie zum nahe gelegenen Athener
Syntagma-Platz vor das Parlament ziehen, um wie Zehntausende gegen die
Entlassungsorgie im öffentlichen Dienst zu demonstrieren.
Jetzt schon ist die Arbeitslosigkeit skandalös hoch. Betrug die Arbeitslosen-
quote im Jahr 2008 noch 7,3 Prozent, waren es im Jahr 2013 27,6 Prozent
(bei Frauen 31,6 Prozent), und die Jugendarbeitslosigkeit (der 15- bis 24
–Jährigen) stieg von 19,6 Prozent im Jahr 2008 auf 64,9 Prozent im Jahr
2013. Und das sagt noch überhaupt nichts über die „ganz normalen“ Arbeits-
verhältnisse aus: Lohndrückerei, Erpressung der Beschäftigten, Hungerlöhne
– das kennt man in Deutschland ja auch.
„Wir kriegen das schon hin“, sagt Margarita dennoch irgendwie optimis-
tisch. „Aber was wissen die von der Troika von unserem Alltag, unserer
Verzweiflung, unserer Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, von unserem
maroden Gesundheitswesen, der dramatischen Situation der Schulen … dem
Elend, dem Hunger …“ Dann schweigt sie und geht zur Demonstration vor
das Parlament.
All das, was ein glückliches Leben ausmacht – Hoffnungen und eine gesich-
erte Zukunft – wurden nicht nur ihr entrissen. Geblieben ist ihre feste Über-
zeugung, dass man trotzdem gegen dieses aufgezwungene System der syste-
matischen Verarmung kämpfen muss. Und diese Überzeugung teilt sie mit
Millionen Landsleuten, die gelernt haben, sich zu wehren.
Andere wie Helen Skopis, 53 Jahre, eine für ausländische Fernsehstationen
und das griechische Radio arbeitende renommierte Journalistin, wollen nur
noch flüchten. „Es ist eine unmenschliche Situation. Persönlich bin ich ja
dafür, dass Griechenland im Euroraum bleibt. Aber ich möchte nicht in
einem Euroland leben, wo ich 400 Euro verdiene. Seit zwei Monaten habe ich
meine Strom- und Wasserrechnung nicht bezahlt. Es ist zu viel. Und alle
Preise steigen. Aber ich will meine Ehre nicht verlieren, deshalb gehe ich
weg. Wohin? Ich weiß es nicht.“ (S.34ff.)