“Freiheit und Zerfall waren vorprogrammiert, als der neue Generalsekretär
noch über Veränderungen nachdachte und vorsichtig den berüchtigten
“Scheinwerfer der Perestroika” anknipste, die neue Propagandasendung des
Fernsehens, die seine Ideen zu den Massen tragen sollte. Gorbatschow ahnte
nicht, was er mit dem Umlegen dieses Schalters alles auslösen sollte -
stürmische Parteitage, die Spaltung der Partei, die Personalentscheidungen
des sowjetischen Präsidenten, die bisland willige Diener zu Putschisten mit
zitternden Händen machten. Aber das sind unwichtige Details.
Allerdings werden sich spätere Generationen vielleicht für diese Details der
Gorbatschow-Zeit interessieren. Werden doch darin ihre historische Gesetz-
mäßigkeiten sichtbar, die die Politologen heute entdecken. Die Nachwelt
wird erfahren, dass in jenen fernen Jahren in Russland ein neues Gesetz der
gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt wurde: Auf seinem Wege zu
Marktwirtschaft und Demokratie musste das Imperium unweigerlich eine
kriminelle Etappe durchlaufen.
Die Ursachen liegen offenbar im verbrecherischen Wesen des totalitären
Staates, zu dem die historischen Eigenheiten des unerforschlichen russischen
Weges kommen.
Im Übrigen wird die postsowjetische Publizistik beweisen wollen, dass daran
nichts Besonderes sei. Zur Rechtfertigung des gigantischen Raubes in Russ-
land wird sie mit dem Finger auf andere Länder weisen. Das Chicago der
Dreißigerjahre und Al Capone geraten so beinahe zum nachahmenswerten
Beispiel.
Die Journalisten werden unvermeidliche Kinderkrankheiten in der Phase der
“ursprünglichen Akkumulation des Kapitals” erwähnen und die Vermutung
anstellen, dass sich in einigen Jahren oder Jahrzehnten alles von selbst zum
Besseren wendet.
Die Kommunisten zerstörten das Imperium von zwei Seiten her. Von unten
waren das findige Burschen von 25 bis 50 Jahren mit Komsomol-Abzeichen,
Parteibuch oder KGB-Ausweis (Schild und Schwert in Gold auf rotem
Grund), die es privatisierten und sich die besten Sücke aneigneten, von oben
Idealisten, die das Ganze “politisch führen” wollten.
Sowohl jene, die oben der neuen Utopie vom “Kommunismus mit mensch-
lichem Antlitz” nachjagten, als auch jene, die unten die Basis für ihre
privaten Milliardenvermögen legten, hatten an dem mächtigen Imperium
kein Inter-esse mehr. Deshalb rissen sie es letzten Endes eigenhändig in
Stücke.
Aber wir wollen den Dingen nicht vorgreifen. Die ersten Schritte der Peres-
troika waren Experimente in der Wirtschaft. Das Wort von der “Beschleuni-
gung” kam in Mode. Das war der Versuch, den Klauen der Planwirtschaft zu
entfliehen, Geld zu verdienen, ohne zu sehr auf ideologische Dogmen Rück-
sicht zu nehmen, und das so schnell wie möglich.
Im Grunde tauschte die Nomenklatura die Macht gegen Konten bei
westlichen Banken, tote Dogmen gegen lebendiges Geld. “Der Prozess ist in
Gang gekommen”, erklärte Gorbatschow in jenen Tagen und meinte damit
etwas ganz anderes. Er hatte ein geflügeltes Wort geprägt.”  
 Quelle: Dmitri Popov/Ilia Milstein, “Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie”,
             2012 Redline Verlag, S.47ff.