Gerichte wirken funktionsbedingt im Schutz der richterlichen Unabhängigkeit.
Sie sind unabhängig von politischen Weisungen und unabhängig von Wahlen
und der durch Wahlen vermittelten Rückbindung an die Vorstellungen der
Gesellschaft, für die sie Recht sprechen.
Das ist demokratisch erträglich, weil sie einer anderen Bindung unterliegen,
nämlich der Bindung an das Recht, das aus einem demokratischen Verfahren
hervorgeht und von ihnen lediglich angewandt werden soll.
Allerdings zeigt nichts besser als die Rechtssprechung des EuGH, dass die
Bindungskraft von Rechtsnormen begrenzt ist. Sie sind notwendig generell
und abstrakt formuliert, werden aber auf individuelle und konkrete Fälle
angewandt. Diese Kluft muss durch Interpretation überbrückt werden.
Interpretation ist ein methodengeleiteter Vorgang, aber es wäre ein Missver-
ständnis, die Interpretationsmethode für ein neutrales Werkzeug zur Ermittlung
eines im Normtext bereits abschließend deponierten Sinns zu halten.
Im Vorgang der Rechtsanwendung wird immer zwischen Interpretations-
alternativen gewählt und Sinn generiert.
Dabei hat sich der EuGH durch von ihm gewählte Methode (nicht
völkerrechtlich, sondern staatsrechtlich) und die Art, sie zu praktizieren, als
außerordentlich schöpferisch erwiesen.
Quelle: Dieter Grimm, “Europa ja - aber welches?”, 
       Verlag C.H.Beck oHG, München 2016, S.15ff.