Wer verstehen will, was Amerika im Innersten zusammenhält, muss nicht in die
Hauptstadt Washington reisen, diese späte Stadtgründung mitten im Sumpfgebiet.
Der Besucher muss nicht in Manhattan auf Spurensuche gehen, schon gar nicht in
den jungen Metropolen an der Westküste.
Vielmehr muss er nach Boston fahren, in die ehrwürdige Ostküstenstadt. Hier
verläuft der "Freedom Trail", der historische Stationen von Amerikas Freiheitskampf
aneinanderreiht. Hier sammelte sich einst die Boston Tea Party, in der Siedler
gegen die Ausbeutung durch Englands Kolonialherren protestierten - und hier,
mitten in Amerikas Herz, explodierten am Montagnachmittag tödliche Bomben,
weniger als zwölf Jahre nach den tödlichen Terroranschlägen vom 11. September
2001. Ausgerechnet am Patriot's Day, dem dritten Montag im April, an dem Bostons
Einwohner ihrer stolzen Traditionen gedenken.
Boston-Marathon: Explosionen an der Ziellinie
Es geschah gegen 14.50 Uhr Ortszeit: Lelisa Desisa aus Äthiopien hatte beim
traditionsreichen Boston-Marathon, eine Institution seit 1897, bereits Stunden
zuvor als Sieger die Ziellinie überquert - und nach und nach rund 17.600 von
23.000 Teilnehmern. Dann wurde das Sportereignis zur Tragödie: Erst explodierte
eine Bombe nahe der Ziellinie im Herzen Bostons, nicht einmal 20 Sekunden später
weniger als 100 Meter entfernt eine zweite.
Dichte Rauchwolken stiegen auf, die Explosion warf Läufer regelrecht um, Fotos
zeigen Fußwege voller Blut. Als der Rauch sich verzog, lagen zwei Menschen tot am
Boden, darunter ein acht Jahre alter Junge. Ein drittes Opfer erlag Stunden später
seinen Verletzungen. Die Behörden rechnen mit weiteren Toten, deutlich mehr als
140 Menschen sind verletzt, davon viele schwer - 17 Menschen befinden sich laut
CNN in kritischem Zustand.
Kleine, selbstgebastelte Bomben
Ärzte der umliegenden Kliniken mussten mindestens zehn Gliedmaßen amputieren,
zumeist Beine, da die Bomben nahe am Boden losgingen. Alasdair Conn, Chefarzt in
einem Bostoner Hospital, sagte der "New York Times": "Das ist eine Art von
Explosion, wie wir sie sonst nur aus Bagdad oder Israel kennen."
Bei den Waffen soll es sich um kleine, selbstgebastelte Bomben handeln. Der
Nachrichtenagentur AP zufolge wurde in Boston bereits eine Wohnung durchsucht.
US-Präsident Barack Obama vermied den Begriff "Terrorakt" in einer ersten
Stellungnahme, ein Berater sagte der "Washington Post" hingegen, wenn mehrere
Sprengsätze gezielt hochgingen, sei dies eindeutig ein "terroristischer Akt".
Entsprechend wirkte Boston in den Minuten und Stunden nach der Explosion: Die
Polizei hielt, weniger als einen Kilometer vor dem Ziel, die ahnungslosen
verbliebenen Läufer auf. Anwohner erhielten die Anweisung, in ihren Häusern zu
bleiben. Der Flughafen wurde abgeriegelt, Beamte suchten in der ganzen Stadt
nach weiteren Sprengsätzen und sorgten dabei für Verwirrung: Erst teilten die
Behörden mit, bis zu fünf weitere Sprengsätze entdeckt zu haben. Später nahmen
sie das zurück.
Zwischenzeitlich sorgten Berichte über eine angebliche Explosion in der John-F.-
Kennedy-Präsidentenbibliothek in einem anderen Stadtteil Bostons für Aufregung.
Doch offensichtlich hatte der Brand dort nichts mit den Bomben im Zentrum zu tun.
"Heute sind wir alle Bostoner"
Fest steht aber: Eines der berühmtesten Marathonrennen der Welt verwandelte sich
binnen Sekunden vom Traumtag für Hunderttausende Läufer und Zuschauer in ein
kollektives Trauma. Blitzschnell breitete sich die Furcht im Rest des Landes aus.
Sicherheitsbeamte verscheuchten Passanten vom Gelände vor dem Weißen Haus in
Washington, in New Yorks Straßen gingen Sicherheitsgitter hoch. "Heute sind wir
alle Bostoner", schrieb Amerikas Uno-Botschafterin Susan Rice auf Twitter, das
klang wie nach den Anschlägen im Jahr 2001.
Stehen die Sprengsätze für eine neue Ära des Terrorismus? Eine, in der
ausländischen Terroristen statt einer gewaltigen Attacke - wie sie Terrorfürst Osama
Bin Laden am 11. September gelang - auf kleinere Angriffe setzen? Das glaubt der
republikanische Kongressabgeordnete Peter King: "Der Anschlag sieht ganz nach al-
Qaida aus."
Oder war es eine Aktion einheimischer Terroristen, den Bomben zufolge eher
amateurhaft durchgeführt? Immerhin ist der 15. April Stichtag für US-
Steuererklärungen und daher eingefleischten Staatsgegnern verhasst.
US-Medien berichten, das FBI befrage einen rund 20 Jahre alten Saudi-Araber, der
vom Ort der ersten Explosion fortgelaufen sein soll. Laut CNN sucht das FBI zudem
nach einem dunkelhäutigen Mann mit einem schwarzen Rucksack. "Noch gibt es
keinen Verdächtigen", betonte ein Behördensprecher.
"Wir werden herausfinden, wer das getan hat, und die Schuldigen zur
Verantwortung ziehen", versprach Präsident Obama. Bislang gab es in der Amtszeit
des Demokraten keine tödliche Attacke auf amerikanischem Boden - auch wenn
etwa eine Autobombe am New Yorker Times Square im Mai 2010 nur durch Glück
nicht zündete. Immer wieder hob Obama im Wahlkampf hervor, Bin Laden getötet
zu haben.
Es schien zuletzt, als könne sich Amerika vom Terrorerbe langsam lösen. So sollen
Amerikaner künftig wieder Taschenmesser auf Flüge mitnehmen dürfen.
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/anschlag-auf-boston-marathon-
erschuettert-die-usa-a-894532.html