Fraglich: Freiheit und Demokratie. Der
Arabische Frühling als Problem medialer
Wahrnehmung
Das Wort “Arabischer Frühling” war eine Erfindung der Medien. Eine Projektion von
Hoffnung auf eine eher undurchsichtige Realität. Es sollte suggestiv an den „Prager
Frühling“ erinnern, der 1968 den Niedergang des kommunistischen Machtsystems in
Osteuropa einleitete. Die Revolution, die dem Staatssozialismus ein Ende bereitete,
verlief – mit Ausnahme Rumäniens – gewaltlos und unblutig. Ein Versprechen.
Zugleich eine Ausnahme in der Geschichte der Revolutionen.
Die Unruhen in den arabischen Ländern begannen im Winter 2011. Ihr Verlauf war
unterschiedlich, es kam und kommt – je nachdem, wie sich die Armeen der
betreffenden Länder verhielten – zu mehr oder weniger Blutvergießen. In Tunesien
ließ die Armee den Despoten fallen, weshalb er relativ schnell abtrat und floh. In
Ägypten stellte sie sich wie ein Puffer zwischen Gegner und Anhänger des Regimes,
wodurch zunächst größeres Blutvergießen verhindert wurde. In Libyen löste sie sich
auf, was eine bürgerkriegsähnliche Situation hervorrief, mit Lynch-Szenen und
Massenexekutionen, besonders beunruhigend durch das Verschwinden großer
Mengen Waffen, darunter moderner Raketen, die zum Teil an terroristische Gruppen
wie die Al-Qaida im Maghreb oder die in Gaza herrschende Hamas verschoben
wurden. In Syrien zeigt die Armee gleichfalls starke Zeichen von Auflösung.
Gemeinsam war diesen Aufständen, dass die Millionen beschäftigungsloser junger
Männer, eine gigantische „No-Future“-Generation, gegen die Hoffnungslosigkeit
aufbegehrten, zu der sie unter ineffizienten, despotischen, korrupten Regimen
verdammt waren. Diese Millionen junger Männer waren einst als Problem-Lösung
gedacht, als „demographische Bombe“ und Druckmittel gegenüber dem Westen,
erwiesen sich aber – angesichts der degradierenden ökonomischen Situation ihrer
Länder – zunehmend selbst als Problem. Mit hohlen Versprechungen aufgewachsen,
von Kindheit an zu anti-westlichen Ressentiments erzogen, ließen sie sich in Tagen
wirtschaftlicher Krisen nicht länger unterdrücken.
Vor allem ist in der Ära allgegenwärtiger Information und weltweiter elektronischer
Netzwerke eine stillschweigende, heimliche Unterdrückung – über Jahrzehnte eins
der Charaktersitika islamischer Staaten – nicht länger möglich. Selbst der syrische
Präsident Bashir al-Assad, der von allen arabischen Diktatoren am blutigsten und
konsequentesten vorging und gleich zu Beginn der Proteste eine komplette
Informationssperre über sein Land verhängte, kann die Video-Aufnahmen von
Mobiltelefonen und anderen Belege seiner Brutalität nicht an ihrem Weg ins Internet
hindern, wo sie der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis gelangen. Die
selbstverständliche, stille Unmenschlichkeit, mit der arabische Herrscher traditionell
gegen ihre politischen Feinde – äussere wie innere – vorgehen, verliert einen Gutteil
ihrer einschüchternden Wirkung, indem sie öffentlich wird. Zudem ermöglichen
Internet und Mobiltelefon eine Koordinierung oppositioneller Aktivitäten, die bisher
undenkbar schien.
Die Revolten gegen die arabischen Regimes profitierten von deren technologischer
Zurückgebliebenheit und relativen Wehrlosigkeit gegen die neuen
Kommunikationsmittel. Die Regimes von Mubarak, Gadafi oder Asad regierten mit
altmodischen Mitteln, ihre Struktur war primitiv-zentralistisch, sie waren
isolationistisch, medienfeindlich und geprägt von staatssozialistischen Mustern. Ihr
Informationsmonopol wurde überraschend ausser Kraft gesetzt, von Internet und
mobilen Telefon-Netzen. Bisher ist es nur dem iranischen Mullah-Regime gelungen
– durch technologische Hilfe aus Deutschland – eine ausbrechende Revolte
erfolgreich zu unterdrücken (die Aufstände nach der Wahlfälschung 2009), „to block
Internet and cellphone traffic with most sophisticated methods, thanks to technology
provided by Nokia Siemens Networks“, wie ein Kolumnist der Washington Post
feststellte. Bei fortschreitender Wirtschaftskooperation mit westlichen Unternehmen
werden demnächst auch andere islamische Staaten beginnende Rebellionen
blockieren können oder präventiv  geheimdienstlich ausspähen und unterwandern.
Die neuen Regierungen werden sich – von den Wirtschaftsleuten der entwickelten
Staaten umworben – unter den Technologien und Waffensystemen der Welt
aussuchen können, was zur besseren Kontrolle der Lage in ihren Ländern vonnöten
ist. Insofern waren die spontanen Aufstände dieses Jahres eine einzigartige
historische Gelegenheit.
Zu den Kennzeichen der neuen Demographie dieser Länder gehört eine rapide
Urbanisierung, die in Wahrheit ein Symptom der Zurückgebliebenheit und
Verarmung ist. In den wachsenden Riesenstädten mit sehr junger und zum großen
Teil arbeitsloser Bevölkerung sieht der amerikanische Soziologe Jack A. Goldstone
„ein wachsendes Potential für soziale Konflikte und politische Radikalisierung“.
Während sich die Jugend zunehmend in Mega-Metropolen konzentriert, wird die
Infrastruktur weiter Teile des Landes vernachlässigt, riesige  Landflächen liegen
brach, veröden, desertifizieren. Keins der nordafrikanischen Länder bemüht sich
bisher um Revitalisierung der riesigen Wüstenflächen zu landwirtschaftlicher
Nutzung, um Sicherung neuer Wasserquellen durch Meerwasserentsalzung oder um
alternative Energien, wie es in den entwickelten, reichen arabischen Ländern
Kuwait, Saudi-Arabien oder Abu Dhabi längst üblich ist. Ägyptens Landwirtschaft ist
so sehr heruntergekommen, dass trotz riesiger Landflächen (und einer bis ins
Altertum reichenden Tradition als „Kornkammer“ und Weizenexporteur) heute
Brotgetreide importiert werden muss. Das Land am Nil, dem größten Fluss der
Region, steht ausserdem vor einer akuten Wasserkrise.
Durch die Ballung des politischen Konfliktpotentials in den großen Städten entsteht
die Illusion, als bestünde etwa Libyen, ein weites Arreal in der noradfrikanischen
Wüste, aus einem Dutzend größerer Städte, deren Einnahme die Herrschaft über das
Land bedeutet. Strategisch mag das zutreffen, doch keineswegs, was die Lösung der
wirklichen Probleme des Landes betrifft. Die Zukunft Libyens läge in einer Nutzung
seiner Wüstengebiete, die mit Hilfe moderner Technologien und alternativer
Energien – in Wüstengebieten vor allem Solar-Energie – zu Lebensstätten für die
wachsende Bevölkerung entwickelt werden könnten. Statt dessen bleibt das Land –
unter dem Einfluss seiner ausländischen Geschäftspartner – auf die bisherige
Monokultur der Erdöl-Förderung fixiert. Die Ballung der sozialen Konflike in den
städtischen Konglomeraten, die dort weiterhin zu erwartenden Konfrontationen und
Unruhen und die fast ausschliessliche Fokussierung der Medien-Aufmerksamkeit auf
diese Orte verhindern eine wirkliche, zukunftweisende Entwicklung des Landes.
In Ägypten lebt heute über ein Drittel der Bevölkerung in nur vier
„Metropolregionen“ (wie diese Art Mega-Wucherungen von der Wissenschaft
genannt werden), davon allein sechzehn Millionen im Ballungsgebiet Kairo. Dort,
fast ausschliesslich dort, spielte sich auch die Revolte ab. Sie hat viele andere
Gegenden des großflächigen Landes kaum berührt. Und falls doch, dann eher negativ
wie die Halbinsel Sinai, wo der Zusammenbruch der Polizeikräfte des Mubarak-
Regimes zur Machtübernahme durch lokale Beduinenstämme führte, verbunden mit
Rückkehr zum “Recht des Stärkeren“, zu Menschenhandel (afrikanischer Flüchtlinge
auf dem Weg nach Israel und anderen nördlichen Zielen) und exzessivem
Waffenschmuggel. Unter dem Druck der zunehmend jugendlichen, weitgehend
arbeitslosen Bevölkerung der Mega-Metropolen wird sich auch keine kommende
Regierung sobald den wirklichen Problemenlösungen für das Land zuwenden
können, die viel tiefer ansetzen müssten als in der raschen Beschaffung von
Arbeitsplätzen für die revoltierende Jugend Kairos.
Zunächst haben die Staaten, in denen der „Arabische Frühling“ zu Wochen oder
Monate dauernden Unruhen führte, schweren wirtschaftlichen Schaden genommen.
Milliarden-Verluste entstanden durch Arbeitsausfall, ausbleibenden Tourismus, vor
allem durch eine starke Kapitalflucht in- und ausländischer Unternehmen. Innerhalb
weniger Monate sind die Währungsreseven der ägyptischen Regierung um 11
Milliarden Dollar geschwunden. Das Wirtschaftswachstum Ägyptens ging stark
zurück, die (offiziell angegebene) Arbeitslosenrate stieg im zweiten Quartal um ein
Viertel (gegenüber 2010). Tunesien meldet als unmittelbare Folge der Aufstände ein
Schrumpfen des Wachstums auf weniger als ein Drittel verglichen mit 2010. Nur
rasch erteilte Milliarden-Kredite aus Saudi-Arabien und den reichen Golf-Staaten
haben bisher den drohenden Kollaps des ägyptischen Staatshaushalts verhindert.
Auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Banken im Juni 2011 in Rom warnte auch der
Finanzminister Jordaniens vor einem Zusammenbruch der Wirtschaft seines
Landes. Die größte Gefahr sah er in der Kapitalflucht: „There is capital flight, 500
million Dollars a week are leaving the Arab world.“ Besonders akut ist aus diesem
Grund die wirtschaftliche Lage Syriens, dessen Präsident Assad gleichfalls im Juni
von einem drohenden „Kollaps der syrischen Volkswirtschaft“ sprach – mit der
sofortigen Folge, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, dass eine weitere
Welle von Kapitalflucht aus Syrien einsetzte und die Währung des Landes, das
Syrische Pfund, acht Prozent seines Wertes verlor.
Die Lage in Syrien ist symptomatisch für die ärmeren arabischen Staaten, die nur
über geringe oder keine Erdölvorkommen verfügen. Sie geraten durch die Proteste in
ein hoffnungsloses Dilemma. Der drohenden Verarmung Syriens wollte das Assad-
Regime 2011 einige überfällige, nicht in jedem Fall populäre Wirtschaftsreformen
entgegensetzen, um den freien Markt zu fördern und ausländisches Kapital ins Land
zu holen, doch ehe sie wirksam werden konnten, brachen die Proteste aus, die
sofortige soziale Erleichterungen verlangten. Das Regime, in dem Versuch, sich an
der Macht zu halten, senkte die Benzin-Preise um fünfundzwanzig Prozent
(geschätzte Kosten für den Staatshaushalt 527 Millionen Dollar im Jahr, da Syrien
nicht genügend eigenes Öl besitzt) und stellte 100 000 neue Mitarbeiter ein, die
bisher nur mit Zeit-Verträgen gearbeitet hatten. Bis dahin verfügte der syrische Staat
über ausländische Währungsreserven von 18 Milliarden Dollar, doch diese
schmelzen zusehends dahin, um siebzig bis achtzig Millionen pro Woche, in dem
bisher erfolglosen Versuch, den Verfall der syrischen Währung und die damit
verbundene Verarmung des importabhängigen Landes aufzuhalten. Da die blutigen
Proteste andauern, ausländische Investoren fern bleiben und die Reserven
schwinden, nähert sich das syrische Regime der Zahlungsunfähigkeit.
Auf dem Weg zum Staatsbankrott ist auch Ägypten, trotz umfangreicher
Hilfszahlungen aus dem Ausland. Während sich die europäischen Medien fast
ausschliesslich dem spektakulären Geschehen auf dem Kairoer Tahrir-Platz
widmeten, blieb der wirtschaftliche Niedergang des ohnehin strukturschwachen
Landes weitgehend unbeachtet. Bereits Ende nächsten Jahres, so sagen Analysten
voraus, wird die Militärführung (oder wer sonst zu diesem Zeitpunkt das Land
verwaltet) nicht nur für erhebliche Kreditausfälle gegenüber den ausländischen
Gläubigern gerade stehen müssen, sondern, was die innere Situation Ägyptens
weitaus schwerer belasten muss, nicht mehr imstande sein, die ägyptische
Bevölkerung zu ernähren. Ägypten, reich an bewässerbarer, nutzbarer Anbaufläche,
muss dennoch die Hälfte seiner Lebensmittel importieren. Noch immer sind vierzig
Prozent der Ägypter (32 von 80 Millionen) Analphabeten. Andererseits verlassen
junge Akademiker zu Hunderttausenden das zurückgebliebene Land, um im Ausland
ihr Glück zu versuchen. Ein veraltetes Grundrecht verhindert die eindeutige
Zuschreibung von Landeigentum und damit die Aufnahme von Aufbau-Krediten für
Bauern. Bei drastisch schwindenden Währungsreserven werden die staatlichen
Lebensmittelkäufe zur Verhinderung kommender Hungersnöte nur noch durch
ausländische Gelder möglich sein.
In dieser Situation drohender Verelendung war der „Arabische Frühling“ nicht
zuletzt ein Versuch der Image-Aufwertung seitens der arabischen Nationen. Schon
lange haben die Bewohner diese Länder nach eindrucksvolleren Formen der
Selbstdarstellung in der modernen Medienwelt gesucht. Die Millionen arabischer
Zuschauer durchschauen die Schwäche der westlichen Mediengesellschaft, den
Schein höher zu bewerten als die Realität, den sensationellen Schwindel höher als
die unerfreuliche Wahrheit, den schillernden Selbstdarsteller höher als den Tätigen,
Verlässlichen. Sie haben verstanden, dass in der heutigen Gesellschaft der Wert einer
Sache zunehmend ihr Show-Wert ist. Schon seit Jahren werden wir Zeugen
spektakulärer Auftritte islamischer Führer und Diktatoren, die darin wetteifern, auf
sich aufmerksam zu machen: Ahmadinejad, der mit großem Aplomb den Holocaust
leugnet, Gaddafi, der vor laufenden Kameras die UN-Charta zerriss, oder Erdogan,
der Israel mit türkischen Kriegsschiffen drohte. Diese Auftritte, so gefährlich sie
wirken, verraten zugleich tiefe Minderwertigkeitsgefühle. Vor allem die junge
Generation, westlich gekleidet, mit Mobil-Telefonen und anderen Assecoirs der
Techno-Moderne geschmückt, will den deprimierenden Anblick der Misere, den ihre
Länder bieten, durch neue, aufregende, Aufbruch und Erneuerung verheissende
Bilder korrigieren.
Selbstdarstellung hat im Islam traditionell großen Wert. Sie ist eine Frage der Ehre,
der Selbstachtung. Das Image der Zurückgebliebenheit, Immobilität,
Rückwärtsgewandtheit und  inneren Schwäche, das vielen arabischen Ländern
anhaftet, musste besonders die Jüngeren, Gebildeten bedrücken. Im Februar 2009
gab der Ägypter Mohamed el-Baradei, der ehemalige Präsident der Internationalen
Atom-Behörde (und zwei Jahre später eine der prominenten Stimmen der Revolte in
Kairo), dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera ein aufschlussreiches, fast
verzweifelt wirkendes Interview. Die arabische Welt, erklärte er, sei auf ihrem
niedrigsten Stand seit Bestehen („at its lowest point ever“), sie trage fast nichts mehr
bei zu Kultur, Erkenntnis, Fortschritt der Menschheit. Man messe die Bedeutung von
Völkern heute nicht mehr daran, wie groß an Zahl sie sind und wie viele ihrer
Männer unter Waffen stehen, sondern was sie beitragen an zivilisatorischer,
wissenschaftlicher, kultureller Leistung. „Und da sind wir“, so El-Baradei im Jahre
2009, „fast bei Null“.
Insofern galten die Revolten des Winters 2011 nicht nur der drückenden materiellen
Lage, der Arbeitslosigkeit, dem drohenden Hunger, sie waren auch Ausbrüche aus
dem psychischen Elend, der überhand nehmenden Depression und
Selbstverachtung. Vermutlich  hat dieser mediale Erfolg größere Auswirkungen auf
die Zukunft der jungen Generation als die tatsächlichen Veränderungen, die sie
bisher erkämpft hat. Die Medien der Welt waren bezaubert von den machtvollen
Aufmärschen junger Menschen auf dem Kairoer Tahrir-Platz, von den bunt
gekleideten, moderne Waffen schwingenden, in romantischer Lässigkeit
auftretenden „Turnschuh-Rebellen“ in Libyen. Fernsehen, Zeitungen und Internet
spielten begeistert mit und unterzogen das Image des jungen Arabers – bisher eine
eher bemitleidenswerte, konfus-aggressive, zur suizidalen Verzweiflungstat neigende
Figur – einer gründlichen Renovation.
Die Medienbegeisterung für die arabischen Rebellionen des zurückliegenden Jahres
ist aus verschieden Perspektiven kritisiert worden: einmal, weil die jungen
Straßenkämpfer ihrerseits Neigungen zu Grausamkeit, Rassismus und Verachtung
der Menschenrechte zeigten, die mit dem medialen Bild von Aufbruch und Befreiung
schlecht vereinbar sind, zum anderen, weil starke Sympathien für
fundamentalistisch-islamische Erlösungslehren zu vermuten waren und sich
mittlerweile – bei den Wahlen in Tunesien oder durch das Bekenntnis zur Sharia,
mitsamt Polygamie, in Libyen – bestätigt haben. Demokratie im westlichen Sinne
war – nach Auskunft von Zeugen – keine populäre Forderung unter den jungen
Kämpfern. Die Berliner Journalistin Gabriele Riedle, zu Beginn des Aufstands in
Libyen die einzige westliche Journalistin, die direkt aus dem Land berichten konnte,
erklärte gegenüber der deutschen Illustrierten stern: „Ich habe keinen einzigen
Menschen getroffen, der von Demokratie gesprochen hat.“ Der Reflex des Westens,
der Protest sei gut und bringe Demokratie, sei nichts anderes als Wunschdenken.
Am schwersten wiegt jedoch die Frage, ob die Rebellionen die Verhältnisse in den
arabischen Ländern grundlegend verändern werden oder ob es sich nur um groß
inszenierte Machtwechsel handelt, ob die Verelendung dieser Länder gestoppt oder
nur von neuen herrschenden Gruppen ausgenutzt wird, ob die Region weiter verarmt
und Brennstoff für künftige Gewaltausbrüche anhäuft oder elementare Reformen
einleitet, die das Leben der arabischen Bevölkerungen erträglicher und das
Verhältnis unter den Staaten friedlicher machen. Länder wie Ägypten, verarmt, groß
an Fläche, reich an billigen Arbeitskräften, als künftige Absatzmärkte verlockend,
sind überaus attraktiv für ausländische Exporteure und Investoren. Vom
erdölreichen Libyen ganz zu schweigen. Hier winken schnelle Arbeitsplätze für die
Millionen arbeitsloser junger Männer, sobald sich amerikanische, chinesische,
europäische oder arabische Investoren des Landes annehmen. Eine wirkliche Lösung
der tiefliegenden, oft uralten, strukturellen und sozialen Probleme steht jedoch kaum
auf dem Programm der Investoren.
Die Eigengesetze westlicher Wahrnehmung ermutigen zur Täuschung. Die großen, 
zunehmend von ihren Annoncenkunden abhängigen Medien der westlichen Staaten
verstehen sich nicht als Hort unbedingter Wahrheitsliebe, eher als Vertreter von
Interessengruppen. So wurde manches Erschreckende, Inhumane, demonstrativ
Islamische, das im Verlauf der Rebellionen zu Tage trat, in deutschen Medien nicht
thematisiert. Übersehen wurde auch, dass die anti-amerikanische, Israel-feindliche
Tendenz der arabischen Rebellion als Drohgebärde gegenüber dem gesamten Westen
gemeint ist. Die Hoffnung deutscher Wirtschaftskreise, auf Kosten der Vereinigten
Staaten in diesen Ländern ins Geschäft zu kommen, ließ deutsche Medien über die
unangenehme Tatsache hinwegsehen, dass es sich bei den Rebellionen vor allem um
eine islamisch-arabische Emanzipationsbewegung handelt, also um eine im Grunde
anti-westliche Bewegung.
Im Zuge dieser anti-westlichen Emazipation wird eher eine gesteigerte Islamisierung
der „befreiten“ Länder – etwa der Rückgriff auf die Scharia als lebensregulierendes
Gesetz-System, die religiös-islamische Ausrichtung der Volksbildung, die
Kultivierung anti-christlicher und anti-jüdischer Ressentiments – zu beobachten
sein als eine Annäherung an westliche Standards. Nicht nur im Sinne der
Machtsicherung der neuen Herrscher, sondern auch als identitätsstiftendes,
Abgrenzung zum Westen schaffendes Amalgam: zunehmend dient der Rückgriff auf
die Superioritätslehre des Koran als Heilmittel für das angegriffene Selbstgefühl
islamischer Unterschichten. Das von El-Baradei im zitierten Interview von 2009
beschworene Wertesystem einer westlich dominierten Welt wird von jüngeren und
radikaleren Wortführern immer weniger als allgemein verbindlicher Maßstab und
Herausforderung zu eigener Leistungssteigerung verstanden, sondern schlichtweg
verworfen und durch ein islamisch geprägtes ersetzt.
Obwohl europäische Staaten alles versucht haben – vom NATO-Bombardement bis
zur fast konformen Begeisterung ihrer Medien – um beizeiten mit den neuen
Machthabern Libyens, Ägyptens, Tunesiens ins Geschäft zu kommen, werden nicht
sie die großen Gewinner der Erschütterungen im Nahen Osten sein. Immens
gestiegen ist der Einfluss der reichen arabischen Ölstaaten. Saudi-Arabien, Abi
Dhabi und Qatar haben die Revolten als Gelegenheit erkannt, die verarmten
arabischen Nachbarn unter ihre Kontrolle zu bringen und die eigene politische
Macht zu steigern. Hinter dem offensichtlichen spielt sich ein geheimer
Machtwechsel ab, der weitaus folgenschwerer ist. Das verarmte Ägypten konnte es
sich im Sommer 2011 leisten, die angebotenen westlichen Hilfs-Kredite (etwa des
Internationalen Währungsfonds IMF) auszuschlagen, da Saudi-Arabien und die
Golfstaaten mit Milliardensummen einsprangen – Länder, die heute zahlungsfähiger
sind als das krisengeplagte Europa. Unübersehbar war die Rolle von Qatar. Das
kleine, extrem reiche Öl-Emirat am Persischen Golf sucht überall auf der Welt
Investitionsmöglichkeiten für die Hunderte Milliarden Dollar seiner „Qatar
Investment Authority“. Der vom Emir von Qatar gegründete Fernsehsender Al-
Dschasira gilt als der „geheime Motor des arabischen Frühlings“. Qatar brach die
diplomatiaschen Beziehungen zum Assad-Regime in Syrien ab, unterstützte die UN-
Resolution vom März 2011, die NATO-Luftangriffe gegen Libyen erlaubte, und
beteiligte sich selbst mit Kampfflugzeugen (wie auch die Vereinigten Arabischen
Emirate) an den Einsätzen.
Noch weiter ging Saudi-Arabien, als es mit Bodentruppen in die Kämpfe zwischen
Shiiten und Sunniten im benachbarten Bahrein eingriff, wo gerade der Iran
versuchte, die Unruhen für sich zu nutzen. Dabei wurde die neue politische
Konstellation im Mittleren Osten deutlich: der Machtkampf zwischen dem
shiitischen Mullah-Staat Iran und der Gruppe der sunnitisch-arabischen Erdöl-
Monarchien um Saudi-Arabien, Abu Dhabi, Qatar. Hier, am Persischen Golf, liegt
der zentrale Ort der kommenden Nahost-Konflikte. Es geht – in der politischen
Ebene – um die Hegemonie in der islamischen Sphäre. In der tieferen, der religiös-
kulturellen Ebene geht es um mehr. Mit der zunehmenden Islamisierung des
Mittleren Osten, die jede Fraktion mit dem ihr eigenen Fanatismus vollzieht, treten
von neuem die unvereinbaren Unterschiede in der religiösen Auslegung hervor,
nehmen folglich die Aversionen zu, die zwischen den Parteien des uralten Schismas
bestehen. Beide Seiten rüsten in nie gesehenem Ausmaß auf, Beobachter sprechen
bereits von einem „Kalten Krieg“. Bei keinem der Protagonisten handelt es sich um
einen demokratischen Staat. Daher ist fraglich, ob unter den Zielen, die sie mit Hilfe
des „Arabischen Frühlings“ durchsetzen wollen, Freiheit und Demokratie eine Rolle
spielen.
Chaim Noll
Quelle: http://www.digberlin.de/fraglich-freiheit-und-demokratie-der-arabische-fruhling-als-
              problem-medialer-wahrnehmung/