Amer Albayati wurde 1942 in Bagdad/Irak geboren -  damals eine prächtige
Haupstadt. Es gab zwar auch zu dieser Zeit große Unterschiede zwischen Arm und
Reich, Amer wurde jedoch in eine gutbürgerliche, liberale Familie der Mittel-
schicht hineingeboren, wo er nach eigener Aussage viel Liebe und Geborgenheit
bekam: „Mein Vater Abdulkadir war ein treuer, warmherziger Familienvater und
guter Ehemann, der mit meiner Mutter in spürbar erfüllender Liebe verbunden war.
Nicht im Traum dachte er daran, sich weitere Frauen zu nehmen. Dem Koran nach
hätte er rein theoretisch mit bis zu vier Frauen verheiratet sein können. Er lehnte
das sogar öffentlich ab, da er überzeugt war, dass die Frauen darunter leiden
würden.“ (S.31)
Die Eltern betrieben ein gut gehendes Spezialitäten-Restaurant und die Familie
führte gemäß Amer ein sorgenfreies, angenehmes und heiteres Leben: „Zur dama-
ligen Zeit herrschte in unserer unmittelbaren Umgebung eine unbeschwerte und
fröhliche Stimmung. Wir lachten viel und waren voll ansteckender Lebenslust.
Wenn Besuch kam, saßen wir Kinder alle interessiert rund um den Tisch. Wo ist
das heute noch so? Egal ob im Irak oder in Europa.“
Anfangs wohnte die Familie im Judenviertel in Bagdad, wobei Amer vor allem das
viele Grün und die Ausflüge zum Pferderennen in Erinnerung geblieben sind. Und
das Zusammenleben mit Christen und Juden war damals völlig problemlos: „Ein-
fach so, wie es nach meinem Gottesverständnis mit den Angehörigen aller Religio-
nen sein sollte. Vor allem geprägt von Menschlichkeit. Ich sagte zu älteren Men-
schen stets respektvoll Onkel. Auch zu Christen und Juden.“ (S.40) 
Aber es gab auch damals schon streng religiöse Iraker, die ihre Kinder in die
Koranschulen schickten. Amer blieb dies jedoch erspart: „Bei uns gab es keinen
Kindergarten. Die fundamentalen Islamisten und primitiven Einheimischen schick-
ten ihre Kinder in die Koran-Schulen, wo es bereits Geschlechtertrennung gab.
Mullah hießen die Koran-Lehrkräfte. Frauen für die Mädchen und Männer für die
Burschen. Die Kleinkinder wurden dort von den männlichen Mullahs oft miss-
braucht und geschlagen. Mir blieb diese Koran-Schule erspart, da meine Eltern
nichts davon hielten. Nur ein geringer Prozentsatz schickte damals die Kinder
dorthin. Schon diese frühe Geschlechtertrennung führte zu einer erzwungenen
Homosexualität in der Folge.“ (S.34)
Auch in der Schule waren Jungen und Mädchen getrennt. Aber es gab einheitliche
Schuluniformen – auch für die Mädchen, niemand trug damals Kopftücher.
Angst weckte jedoch der Religionsunterricht: „Immer wieder wurden uns Sünden
und die Hölle als Bestrafung eingetrichtert. Manchmal konnte ich vor Angst gar
nicht schlafen. Gott wurde für uns wie ein unbarmherziger Tyrann dargestellt. Das
Leben war ein Slalom, bei dem jedes Tor ein Grund zum Einfädeln und Stürzen
war. Da der Islam seit über 200 Jahren keine Reform erfahren hat, stehen wir heute
in Europa (Anm: was den Islam betrifft) noch vor derselben Situation. Ob in Kinder-
gärten, in Moscheenvereinen oder im Islam-Unterricht an öffentlichen Schulen.“
(S.35)
Als wissbegieriger Jugendlicher machte Amer Albayati dann Bekanntschaft mit
der Weltliteratur und mit Philosophie, las unter anderem  Werke von Goethe,
Sartre, Brecht, Kafka, Hegel und Immanuel Kant – was ihm eine neue Welt er-
öffnete. Vielleicht auch ein Grund, warum Amer Albayati ein liberal-denkender
Muslim geworden ist, der sich für Gleichheit, Demokratie und Menschenrechte
einsetzt.
Damals (in den 1950-er Jahren) machte Amer erstmals die Bekanntschaft mit
der islamistischen Sekte der “Muslimbrüder”: „Die Muslimbrüder nützten
schon damals alle religiösen Feste, um ihre Dogmen unters Volk zu bringen. Sie
waren bereits ganz gut organisiert. Sie besaßen Geld und Macht, und wir hatten
regelrecht Angst vor ihnen. Die Situation war in etwa so wie heute in Europa, wo
sich die Muslimbrüder immer mehr ausbreiten und versuchen, andere Moslems zu
unterdrücken.“
Doch bei Amer hatten diese islamistischen Sektenbrüder keine Chance: „Durch das
wirklich vorbildliche Beispiel meiner Eltern, durch ihre Ehrlichkeit, ihre Ideale
und die vieler anderer sympathischer Familien im Irak, kam ich nie auf den Gedan-
ken einen Partner zu hintergehen. Weder privat noch geschäftlich. Das musste für
mich gar nicht erst im Koran stehen. Das bekam ich in meiner Erziehung mit.
Wenn ich mit einer Frau zusammen war, dann bin ich ihr auch wirklich treu ge-
blieben. Auch soziales Engagement, Almosen für die Armen, war damals selbst-
verständlich. Ich erinnere mich an die Hilfe für einen Antikensammler und Ge-
mischtwarenhändler in unserer Gegend, der finanziell am Ende war. Für diesen
sammelte mein Großvater Geld, um ihm die Schmach zu ersparen. Mit diesem
Geld kam der Gemischtwarenhändler wieder auf die Beine und war meinem
Großvater und unserer Familie ewig dankbar. Kein Einzelfall.“ (S.42ff.)
Auch Hunger und Armut kannte Amer Albayati in seiner Kindheit und
Jugend nicht: „Am Ufer des Tigris existierte in jener Zeit viele Grillrestaurants
mit Angeboten an Fisch mit Curry, Tamardin oder Granatapfel auf dem Holzgrill,
mit Kräutern zu Hauf, ständig und bei allen Gerichten Petersilie, Basilikum, Yog-
hurt und viel und oft Obst. Mit läuft jetzt noch das Wasser im Mund zusammen,
wenn ich an diese Ausflüge denke. Dort jedenfalls fanden die beliebten, mir
unvergesslichen geselligen Zusammenkünfte statt.“ (S.43)
Damals war der Irak noch ein Köngreich (1921 bis 1958), in dem es gemäß Amer
Albayati viele Freiheiten gab wie zum Beispiel Pressefreiheit.
Auch unter Saddam Hussein (1979 – 2003) war das Leben im Irak noch vertrag-
bar: „Unter dem Diktator Saddam Hussein kam es zu einer Besserstellung der
Frauen, die sich dann auch scheiden lassen durften. Er erließ Gesetze, die den
Frauen mehr Rechte einräumten, und erhoffte sich dadurch eine größere Akzeptanz
in der Bevölkerung. Die Menschen lebten in punkto Unterhaltung lange Zeit wie in
Europa. In meiner ganzen Familie trug niemand ein Kopftuch. Nach der „Be-
freiung“ vom amerikanischen Einfluss wurde es wieder so schlimm, wie es im Iran
bis heute zu beobachten ist.
Amer Albayati studierte in den 1960er Jahren in Berlin, wo er auch als
Fotograf arbeitete und die deutsche Sprache lernte.
1972 wurde Amers Vater krank, weshalb er für einen Besuch in den Irak zurück-
kehrte. Da er noch keinen Militärdienst geleistet hatte, konnte er vorerst nicht mehr
nach Europa zurückkehren. 
Erst im Herbst 1980, als der Krieg zwischen Iran und Irak begann, kehrte
Amer Albayati nach Europa zurück, wo er bis jetzt lebt. Er schildert seine
Flucht folgendermaßen: „Bombenangriffe erschütterten Bagdad und stürzten die
Stadt in ein wildes Chaos. Maschinengewehrsalven jagten durch Luft, Geschütze
zielten auf iranische Flugzeuge, es brach buchstäblich die Hölle los. Ich wollte
nichts wie weg, nur so rasch wie möglich bei lebendigem Leibe aus Badgad ent-
kommen. Die Sirenen heulten, die Menschen liefen schutzsuchend durch die Stra-
ßen. In einem Taxi gelang es mir schließlich, mich mitten durch den Gefechtslärm
nach Damaskus zu retten. Das war buchstäblich in letzter Minute. Auch an der
Grenze herrschten damals chaotische  Zustände, aber ich schaffte es glücklich bis
zum Flughafen. Dort buchte ich ein Flugticket nach Wien, in die Freiheit.“ (S.51)
Quelle: Amer Albayati, “Auf der Todesliste des IS - Ein Islam-Insider & Reformer
              als bedrohter Warner vor Radikalismus und Terror”, 2016, Seifert Verlag