Das Atomunglück von Fukushima entwurzelte Zehntausende. Fünf
Jahre danach fühlen sich viele der Heimatlosen von ihrer Regierung
im Stich gelassen.
"Eigentlich liebe ich Sushi", sagt Nakaoka, "doch nun meide ich Fisch, der vor
unserer Ostküste gefangen wurde." Denn bei starkem Regen fließt nach wie
vor verseuchtes Wasser von der Atomruine in Fukushima in den Pazifik, selbst
vor der nordamerikanischen Küste wird längst radioaktiver Fallout aus Japan
gemessen - freilich in unbedenklichen Konzentrationen.
Wer der jungen Japanerin zuhört, könnte sie für hysterisch halten. Ähnlich wie
sie sind viele Landsleute aus Nordostjapan geflohen, besonders viele Mütter
mit Kindern. Allein in Fukushima entwurzelte der Atomunfall zeitweise bis zu
160.000 Menschen. Die meisten leben unauffällig und verstreut im Land. Doch
Nakaokas Ängste passen so gar nicht zu dem Optimismus, den die japanische
Obrigkeit fünf Jahre nach der Katastrophe verbreitet.
In den U-Bahnen von Tokio werben Plakate für Reis aus der Unglücksregion.
"Der Stolz von Fukushima" heißt die Kampagne, die Wasser und Luft der
Region als "klar und schmackhaft" preist. An vorderster Front bemüht sich
Premier Shinzo Abe um gute Laune. Anfang Januar empfing er junge Frauen
aus Fukushima, die ihm einen Korb mit getrockneten Früchten aus der Region
überreichten. Danach schwärmte er über Twitter, wie gut das Geschenk
geschmeckt habe: "Davon sollten viele Leute unbedingt probieren." Die
drittgrößte Industrienation, so scheint es, entwickelt fast schon Routine dabei,
nukleare Katastrophen zu vergessen und zu verdrängen. Das erlebten bereits
die Opfer der amerikanischen Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki
und dann die Besatzung des japanischen Fischerboots "Daigo Fukuryumaru",
die 1954 bei einem US-Wasserstoffbombentest am Bikini-Atoll verstrahlt
wurde. Und das erleben jetzt die Opfer von Fukushima.
Auch diesmal hat die Rückkehr in den Alltag Vorrang. Im vergangenen Herbst
ließ die Regierung Abe im südjapanischen Kernkraftwerk Sendai zwei Reak-
toren wieder ans Netz gehen, weitere sollen folgen. Nach dem Fukushima-
Desaster waren alle Kernkraftwerke nach und nach abgeschaltet worden. Die
Skepsis der Bevölkerung war zu groß. Doch Abe will die Stromfirmen vor
wachsenden Verlusten retten, auch gegen den Willen der Mehrheit seiner
Landsleute.
Dabei hat Japan das Fukushima-Desaster längst nicht bewältigt. Rund 8000
Arbeiter sind ständig im Einsatz, um die Atomruine unter Kontrolle zu bringen.
Vier bis fünf Jahrzehnte dürfte es dauern, bis sie abgewrackt und entsorgt ist.
Im Dezember teilte die Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco) mit, dass
die Strahlung in einem unterirdischen Kanal der Anlage 4000-mal so hoch war
wie ein Jahr zuvor. Tepco selbst wurde davon offenbar völlig überrascht.
Unterdessen bleiben die Betroffenen mit ihren Sorgen oft allein. In der
Präfektur Fukushima sind bereits 116 Jugendliche im Alter von sechs bis 18
Jahren an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Das sind 30-mal so viele wie im Durch-
schnitt des übrigen Landes, und in der Zentralregion der Präfektur ist die Rate
gar 50-mal so hoch. Über die Ursachen sind Experten uneins: Einige führen
den Anstieg darauf zurück, dass die Präfektur erst seit dem Atomunfall präzise
Reihenuntersuchungen für Jugendliche anbietet. Andere machen dagegen den
Atomunfall verantwortlich.
Premier Abe lässt sich davon nicht in seinem Atomkurs bremsen. Auch nach
Fukushima, so lautet offenbar seine Botschaft an die Landsleute, geht das
Leben weiter: Seit knapp zwei Jahren drängt seine Regierung geflohene
Bewohner, in jene Teile der 20-Kilometer-Sperrzone von Fukushima zurück-
zukehren, wo die Strahlung bereits deutlich gesunken ist.
Tatsächlich wurden viele Häuser und Gärten dekontaminiert, an den Straßen-
rändern lagern allenthalben schwarze Säcke mit verseuchten Sträuchern und
Erde. Unangetastet bleiben dagegen die bewaldeten Berge - sie decken rund 70
Prozent der Präfektur ab: Dort ist Strahlung oft auch weiterhin bedenklich
hoch.
Toshihiko Hashimoto, 59, weiß, wie die Folgen der Atomkatastrophe an den
Menschen zehren - seelisch und körperlich. In Miharu, an der Grenze zur
Sperrzone von Fukushima betrieb er bis zum Reaktorunfall eine Praxis für
Naturheilkunde. Erst zwei Jahre zuvor hatte er Haus und Praxis neu gebaut.
Aus Sorge über die radioaktive Strahlung floh er mit seiner Familie dann nach
Matsumoto in Zentraljapan. Doch regelmäßig kehrt er allein nach Fukushima
zurück, um Patienten zu betreuen. Die Krankheitsfälle in der Region hätten
eindeutig zugekommen.
"Viel mehr Menschen klagen über allgemeines Unwohlsein, ohne dass sich die
Ursache eindeutig diagnostizieren lässt", berichtet Hashimoto. Schon zwei
Jahre nach der Katastrophe führte er eine Umfrage unter seinen Patienten
durch. Auffallend viele klagten demnach über Durchfall und Nasenbluten. Der
Heilpraktiker gibt eine düstere Prognose ab: "Ähnlich wie nach dem Reaktor-
unfall von Tschernobyl dürften sich auch in Fukushima erst Jahre später die
Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung zeigen."
Hashimoto fühlt sich eigentlich wohl in Matsumoto, in dieser Stadt weiß er
seine Familie in Sicherheit. Allerdings hat seine damals 13-jährige Tochter den
Umzug bis heute nicht verwunden. "In Gedanken lebt sie immer noch Fuku-
shima, per Smartphone chattet sie ständig mit ihren dortigen Freundinnen; in
ihrer neuen Heimat ist sie nie richtig angekommen."
Derzeit baut die Regierung in Hashimotos alter Heimat Miharu ein Umwelt-
zentrum. Dort will sie erforschen lassen, wie die radioaktiv verseuchte Umwelt
möglichst schnell wieder "sicher bewohnbar" gemacht wird. Für Hashmoto ist
das Projekt ein Hohn: "Der Bevölkerung soll vorgegaukelt werden, dass wir
auch nach dem Unfall unbedenklich weiterleben können."
In Matsumoto organisiert der Heilkundler ein Alternativ-Projekt: Er gründete
eine private Stiftung, die Kinder aus Fukushima hierher einlädt, wo sie dann
wenigstens ein Jahr lang in der frischen Bergluft leben und lernen können. Die
Stadt Matsumoto stellte dafür eine Schule zur Verfügung, die ohnehin unter
sinkenden Schülerzahlen litt. Bisher sind allerdings erst acht Kinder aus
Fukushima gekommen, die Zukunft des Projekts scheint ungewiss.
12.3.2016
Quelle und gesamter Artikel: http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/fukushima-die-
vergessenen-opfer-der-akw-katastrophe-a-1081902.html
Säcke mit kontaminierter Erde in
Nahara bei Fukushima
Fische im Hafen Soma
(Präfektur Fukushima)