Udo Jürgens erinnert sich in seiner Autobiographie “Der Mann mit dem
Fagott” an diese Zeit folgendermaßen:
“Spätsommer. Wir schreiben das Jahr 1944. Ich werde bald 10 Jahre alt. Die
Welt ist im Krieg, aber das ist ja nichts Besonderes. Ich kann mir ein Leben
ohne Krieg irgendwie gar nicht vorstellen. Das muss komisch sein, ein Leben
ohne Krieg. Ich liege in der Wiese im Obstgarten  von Schloß Ottmanach.
Dichte Baumkronen gegen den strahlenden Himmel. Laut zirpende Grillen
im nahen Wald. Vogelgezwitscher. Ansonsten Stille.
Die Arbeit auf den Feldern ist getan. Die Ernte ist eingebracht. Unsere Land-
wirtschaft produziert kriegswichtige Güter, Ernährung für die Soldaten an
der Front – und natürlich für die Zivilbevölkerung. Jeder wird gebraucht,
auch wir Kinder. Für die Feldarbeit gibt es schulfrei. Was wir selbst behalten
dürfen, ist vom Reichsernährungsamt streng reglementiert und wird
überwacht.” (S.299 *)
Der kleine Udo Jürgen musste aber nicht nur bei der Feldarbeit mithelfen,
auch in der Schule erlebte er den Krieg hautnah. Denn die Kinder hatten
„Rassenkunde“ -  und einen sadistischen Lehrer, der die Kinder nicht nur
hart bestrafte, sondern teilweise auch mißhandelte:
„Herr Sauer ist wehruntauglich wegen einer Behinderung. Er soll stolze
deutsche Jungen aus uns machen, so sagt er immer wieder. Rassekunde-
unterricht hat er am allerliebsten.
„Es genügt nicht, die Juden zu hassen,“ forderte er immer wieder von uns,
und sein Gesicht scheint dann irgendwie anzuschwellen und wird ganz rot.
„Ihr müsst sie fanatisch hassen!“ brüllt er.  In unserem Rassekundebuch sind
Bilder von ihnen: Verwachsene, böse, häßliche Gestalten mit wulstigen
Lippen, krummen Nasen und hinterhältigem Blick.
Und dann zeigt er uns begeistert die germanischen Menschen in unserem
Rassenkundebuch: Menschen mit ebenmäßigen Zügen, strahlenden Augen,
athletischen Körpern. Die deutschen Mädchen in dem Buch sind die
schönsten Mädchen der Welt: blond, blauäugig, schlank; ein bißchen wie
meine Mutter aussieht. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Juden
gesehen. Bei uns hier gibt es keine. In Klagenfurt soll es ein paar geben, aber
wenn ich in Klagenfurt bin, ist ja immer mein Vater oder meine Mutter
dabei. Die wüßten bestimmt, was zu tun ist, wenn uns einer begegnet. (…)
Vor unserem Aushilfslehrer Sauer haben wir Angst. Manchmal reicht schon
ein schiefer Blick oder ein Räuspern im falschen Moment, damit er wütend
wird. Und dann denkt er sich die fürchterlichsten Strafen für uns aus: Wir
müssen auf einem dreieckigen Holzschneit knien, bis wir vor Schmerzen
zusammensacken. Oder bekommen Schläge mit dem Rohrstock auf die
flachen Handflächen, und dann kann ich wieder tagelang nicht Ziehharmo-
nika spielen und habe Schmerzen beim Schreiben meiner Hausaufgaben. Im
Winter ist es irgendwie am schlimmsten. Wenn er dann einen von uns be-
strafen will, zwingt er ihn, in einem zwanzig Zentimeter schmalen Spalt
hinter dem heißen Ofen in unserer Klasse zu stehen. Man muss  den Kopf
zur Seite drehen, sonst passt man nicht hinein und verbrennt sich. (...)
Welche der Bestrafungen die schlimmste ist, ist schwer zu sagen. Sie sind
alle schrecklich. Ich hab sie alle schon erlebt, wie jeder in meiner Klasse.
Nur wer das „Kleid des Führers“ trägt, ist geschützt. Deshalb gehen alle, die
in der HJ (Hitlerjugend)  oder im BDM sind, in Uniform oder wenig-stgens
in Uniformteilen in die Schule. Und die wenigen, die übrig sind, bekommen
die Wut ganz alleine ab. Manchmal haben wir überlegt, unseren Eltern zu
erzählen, was der Sauer mit uns macht, aber ein deutscher Junge ist
schweigsam, sein wichtigstes Gut ist die Ehre, und die wollen wir nicht
verlieren.
Alle Schüler hassen unseren Aushilfslehrer. Er erzählt auch alles aus der
Klasse der Gestapo. Vor kurzem hat der Alois aus meiner Bank in der Klasse
erzählt, dass sein Vater gesagt hat, der Krieg sei sowieso verloren. Am nächs-
ten Tag hat die Gestapo den Vater von Alois abgeholt. Jetzt wissen sie nicht,
wo er ist. Das hat natürlich der Sauer gepetzt.
Meine Knie tun immer noch weh von der letzten Bestrafung mit dem
Holzscheit. Ich hatte unsauber geschrieben, und das gehört sich natürlich
nicht für einen deutschen Jungen. (….)
Aber vielleicht hat der Lehrer Sauer ja auch recht, wenn er sagt, ich sei
wirklich zu nichts zu gebrauchen. Im Sport bin ich eine Niete, in Rechnen
und Rechtscheiben auch. Ständig bin ich krank und fehle in der Schule, und
auch bei der Arbeit auf den Feldern bin ich alles andere als tüchtig.“ (S.301ff.*)
Mit zehn Jahren bekommt Udo Jürgens endlich das braune Hemd des
Jungvolks. Und er hoffte, dass nun, da ihn der Lehrer Sauer nicht mehr
bestrafen darf, alles besser werden würde. Und er endlich mehr respektiert
würde: „Das Hemd schützt mich. Es hat Zauberkräfte. Es macht mich ein
wenig zu einem Mann, und niemand wird mich mehr schwach und klein
nennen. Nicht einmal Joe. Und schon gar nicht unser Lehrer, Herr Sauer.“
(S.301*)
Schon beim allerersten Treffen seiner Jungvolkgruppe bekommt er von dem
Vorgesetzten, einem HJ-Mann, bei einer Truppenübung einen Schlag auf
den Kopf, eine Ohrfeige, die  schreckliche Folgen für Udo Jürgens hatte.
Denn diese wurde mit einer solchen Wucht ausgeführt, dass er benommen
zu Boden stürzte. Die Schmerzen danach waren unbeschreiblich – und 
hielten auch noch Wochen und Monate danach an. Außerdem litt Udo
Jürgens als Folge davon oft an Mittelohrentzündung. Auch im späteren
Leben blieb auf dem linken Ohr sein Hörvermögen beeinträchtigt…
Udo Jürgens wurde damals übrigens meist Jürgen oder „Jürgilein“ genannt –
einen Namen, den er nicht besonders mochte: „Irgendwie mag ich den
Namen Jürgen nicht besonders. Ich kann nicht sagen, wieso, aber „Jürgen“
ist für mich der Inbegriff von Schwäche und Unbrauchbarkeit. Eigentlich
heiße ich ja „Jürgen Udo“, aber so nennt mich natürlich keiner. „Udo“, das
wäre ein richtiger Name, er hat etwas Kraftvolles, Selbstbewußtes, Klares.
Statt dessen nennt mich aber alle Welt „Jürgi“ oder „Jürgilein“ oder
bestenfalls einfach „Jürgen“. (S.315*)
 
* Udo Jürgens, „Der Mann mit dem Fagott“,  2011, 9.Auflage, Limes Verlag