Dmitri Popov und Ilia Milstein schreiben in ihrer Biographie über diese Zeit im
Leben von Julia Timoschenko folgendes:
“Die Schale des Mythos erstarrt bald zum Panzer, durch den der lebendige
Mensch kaum noch zu erkennen ist. Je geschickter Julia Timoschenko
gegenüber Reportern Aufrichtigkeit mimt, desto weniger erfährt man über
sie. Der Lebensrhythmus der Abgeordneten und JeESU-Präsidentin ist so
rasend schnell geworden, sie hat so unmäßig viel zu tun, dass ihr selbst
keine Minute bleibt, um einmal innezuhalten und zu überlegen, wo sie in
diesem Leben steht und was sie selbst wirklich will.
Julia Timoschenko dürstet nach Ruhm, Geld, Anerkennung und dem Jubel
der Menge. All das hat sie nun im Übermaß, aber sie spürt ständig, dass
etwas fehlt. Leere breitet sich in ihr aus. Wie sie einst die “hölzernen”
sowjetischen Rubel in harte Valuta wechselte, möchte sie nun Ruhm, Geld
und Jubel gegen etwas Dauerhaftes, Verlässlicheres eintauschen.
Ihre Karriere als Geschäftsfrau ist atemberaubend. Im persönlichen Leben
dagegen hat sie kein Glück. Zwar ist sie von Männern umschwärmt und
braucht nur mit dem Finger winken, aber der Richtige ist nicht dabei.
Vielleicht liegt es daran, dass nach Oleksandr keiner kommt, mit dem sie
sich so leicht, unbeschwert, ruhig und glücklich fühlt wie in ihrer Jugend?
In einem Interview bekennt sie, ihre schönste Erinnerung an die Hochzeit
sei der Morgen danach gewesen, als sie ihrem Mann das erste Frühstück
vorsetzte, das be-klemmend-freudige Gefühl, dass die Kindheit endlich
vorüber war und sie nun jeden Tag einem geliebten Menschen etwas Gutes
tun konnte. Für wen aber soll sie sich jetzt an den Herd stellen? Vielleicht
nennt sie deshalb in all diesen Jahren Oleksandr auch weiterhin ihren
Mann, die erste und einzige Liebe ihres Lebens, und tut so, als seien sie
immer noch zusammen, als habe sie eine Familie.
Tatsächlich braucht sie Oleksandr längst nicht mehr, und kein anderer
Mann vermag starke Gefühle in ihr zu wecken. Die hat sie in diesen Jahren
verströmt - sehr starke Gefühle, brennender und strahlender als die Liebe.
Wie soll man sie nennen: Macht? Geld? Selbstbestätigung? Alles richtige
Begriffe, aber keiner trifft den Kern.
Inzwischen ist mehr oder weniger klar, warum sie allein bleibt. Sie ist
allein, selbst wenn sie sich hin und wieder kurzzeitig einen Boyfriend
zulegt. Der stammt entweder aus ihrem Kreis oder wird in ihn
hineingezogen. Dieser Kreis aber ist klein, verwünscht und sehr gefährlich
- ein Teufelskreis.
In der postsowjetischen Geschäftswelt hat man jeden zu fürchten. Eine
Ausnahme bilden nur ganz wenige, die einem am nächsten stehen. Aber
auch die haben bereits verraten und verkauft. Beispiele gibt es genug.
Pawlo Lasarenko soll später über Julia Timoschenko sagen, er habe ihr nie
vertraut. Dasselbe könnte man von ihr auch über ihn hören und über alle,
die ihr nahestehen - zunächst bei KUB und später bei JeESU. Von welchem
Vertrauen kann auch die Rede sein, wenn sie selbst in die cleveren
Geschäftsideen, die sie all die Jahre entwickelte, Sicherungen gegen
Betrug durch die engsten Partner einbauen musste? Verlogenheit und
Niedertracht des Partners wurden immer vorausgesetzt, um das Risiko so
gering wie möglich zu halten. Sie hat niemandem geglaubt und niemand
hat ihr vertraut. Wie soll da Liebe entstehen?
Als sie einmal Jahe später mit einem kalten Lachen an die Neunzigerjahre
zurückdenkt, gibt sie sich offen: “Anfangs haben alle, mit denen ich
Geschäfte machte, geglaubt, hinter mir stehe ein starker Mann mit breiten
Schultern. Ich sei einfach ...” Sie überlegt und sucht nach dem richtigen
Wort, kann es aber nicht finden. “Dann haben sie begriffen, dass es nicht
so ist.” Sie fügt noch hinzu, es seien immer Männer an ihrer Seite
gewesen, die sie “Kampfgefährten” nennt, als rede sie von Krieg. “Aber
irgendwann ist jeder wieder verschwunden, und ich bin meinen Weg
weitergegangen.” Ganz allein? So offen ist sie nun auch wieder nicht.
Besonders einsam wurde es um sie, als Jewgenia zum Studium nach
England ging, um dort weiter die Schule zu besuchen. Das war noch zu
Zeiten von KUB, und die Tochter war ganze 13 Jahre alt. Wie oft weinte sie
ins Telefon und bat, man möge sie wieder nach Hause holen. Auch Julia
musste weinen, forderte dann aber: “Halte durch, Töchterlein, wir sind bei
dir!” Während ihrer Zeit als JeESU-Präsidentin wurde ständig zwischen
London und Kiew hin und her telefoniert.
Dann setzte sich auch ihr “Kampfgefährte” Oleksandr Grawez ins Ausland
ab. Er hatte die Nerven verloren und begriffen, dass es Zeit war, vom
Spieltisch aufzu-stehen und den Gewinn in Sicherheit zu bringen. Grawez
zog seinen Anteil aus JeESU heraus und siedelte nach Israel über. Julia
Timoschenko bliebt zurück. Sie konnte und wollte nicht fliehen. Sie sah
durchaus, dass sie im Ausland sicherer war als in der Ukraine, dachte aber
nie ernsthaft daran, aus dem Land fortzugehen.
Auf Jewgenie und Grawez folgen noch viele bittere Abschiede. Zahlreiche
Geschäftspartner verlassen das Land. Später bringt sie Oleksandr und den
Schwiegervater ins Ausland, weil die Staatsanwaltschaft sich für sie
interes-sieren. Nach ihnen muss sie noch unzähligen Freunden, Kollegen
und Verwandten den Weg in andere Länder bahnen. Im Dezember 1998
verlässt schließlich ihr früherer Schutzherr Lasarenko mit ihrem
Privatflugzeug das Land. Ihn erreicht die Rachegöttin allerdings in der
Schweiz, und er wird schließlich in San Francisco vor Gericht gestellt ....”