Ich spürte, dass das gesamte seelische Fundament, auf dem ich stehe, extrem
instabil ist. Ich fühlte mich wie ein Mann, der sein Bankkonto jahrelang über-
zogen hat, und nun auf einen Schlag alles samt Zinsen an das Leben zurück-
zahlen sollte. Wie viele Lügen, wie viele Wunden und Narben würden wieder
aufplatzen? Die Identitätskonflikte und das Gefühlschaos, die aus den viel-
fachen Verortungen, Umorientierungen und Lagerwechseln in meinem Leben
entstanden waren, hatten tiefe Spuren hinterlassen, die nicht allein durch die
Versöhnung mit der Familie und eine Eheschließung geheilt werden konnten.
Ich bemühte mich, nicht in die Spirale der Angst zu geraten und versuchte,
mich normal zu verhalten. Jogging, Schwimmen und viel Fernsehen boten
Ablenkung. Einmal saß ich mit Connie im Wohnzimmer und war damit beschäf-
tigt, ein Bild von meinen Eltern zu rahmen. Ich stellte das Bild an eine promi-
nente Stelle im Bücherregal und blickte begeistert auf meine Eltern, die Hand
in Hand ins Bild lächelten. Connie schaute mich skeptisch an und sagte:
“Glaubst du, dass das die Lösung ist?”
“Was meinst du?”, fragte ich
“Du weißt, wie sehr ich deine Eltern schätze, aber ich glaube, du belügst dich
selbst. Du schaffst es nicht, deine Eltern mit deiner Geschichte zu konfron-
tieren, deshalb versuchst du, sie stattdessen zu vergöttlichen.”
“Das geht dich nichts an. Du bist ein Einzelkind und deine Eltern sind
geschieden, das verstehst du nicht.”
“Nein. Es geht mich an, Hamed. Ich bin deine Frau, und ich sehe, dass du ein
gefährliches Spiel spielst. Ich sehe, dass es dir schlechtgeht. Aber anstatt über
dein Problem nachzudenken, läufst du davon.”
“Halt die Klappe und geh weg.”
“Ich werde nicht gehen. Hör mir zu!”
Ich verlor die Fassung und schlug ihr ins Gesicht. Nein, meine Hand rutschte
nicht aus, ich schlug sie. Eine innere Stimme riet mir, mich sofort bei ihr zu
entschuldigen. Etwas anderes in mir drängte mich, sie weiter zu schlagen. Als
ich aus dem Rausch meiner Wut erwachte, lag sie am Boden und sagte, dass
sie nichts hören kann. Ich fuhr sie ins Krankenhaus, wo sie am Ohr notoperiert
werden musste. Die Ärztin, die sie operierte, blickte mich voller Verachtung an
und fragte Connie, ob sie die Polizei anrufen solle. Connie lehnte ihr Angebot
ab. Ich schämte mich und werde mich immer für diesen Tag schämen.
Als sie wieder nach Hause kam, sagte ich ihr, dass ich mich von ihr trennen
muss, weil ich mich allen Anschein nach nicht unter Kontrolle halten konnte.
“Das ist typisch für dich, Hamed, erst alles kaputtmachen und danach ab-
hauen!” Sie sagte, dass die Beendigung unserer Ehe sie und nicht mich 
bestrafen würde.
Meine einzige Bestrafung bestand darin, dass sie mir verziehen hat und bei mir
blieb.  Jeden Tag musste ich die schmerzlichen Spuren meiner Gewalt auf
ihrem Gesicht sehen.
 Ich schäme mich für meinen Vater und meine beiden Brüder, die ihre Frauen
regelmäßig schlagen.
Ích schäme mich für die Sure 4 des Korans, die Gewalt gegen die eigene
Ehefrau billigt.
Ich schäme mich, dass die berühmtesten Figuren meiner zeitgenössischen
Kultur nicht Gandhi, Dalai Lama oder Martin Luther King heißen, sondern
Khomeini, Bin Laden, Saddam Hussein, Mulla Omar und Mohammed Atta.
Ich schäme mich, dass ich um nichts besser war als jeder Mann, der mich
kränkte. Ein Teil von mir identifiziert sich offenbar auf perverse Weise mit
jenen Männern, die ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen zutiefst
verabscheue.
Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.280 ff.