Rajiv Parti musste sich letztendlich 5 Operationen unterziehen – und brauchte
immer stärkere Antibiotika und Schmerzmittel. Und er wurde impotent und in-
kontinent.
Im Dezember 2010 schließlich kam dann der totale Zusammenbruch – und er
gestand sich endlich ein, dass etwas schief läuft in seinem Leben:
„Schließlich riet mir mein UCLA-Chirurg zu einem künstlichen Schließmuskel,
einer implantierten mechanischen Vorrichtung, die es mir erlaubte, meine Blase
durch Druck auf einen geschickt unter der Haut platzierten Knopf zu steuern. Die
sechste Operation wurde am 13. Dezember 2010 durchgeführt. Aber jetzt, weniger
als zwei Wochen später, war etwas schrecklich schiefgegangen: Um den künst-
lichen Schließmuskel herum hatte sich eine Infektion ausgebreitet, und die füllte
meinen Unterbauch mit Eiter. Zu Beginn der Infektion nahm ich die stärksten
Antitiotika, die zur Verfügung standen. Ich begann mit einer hohen Dosis Keflex,
und als das nichts half, wurde ich auf Cipro umgestellt, ein gängiges Mittel zur
Behandlung von Harnwegsinfektionen. Auch das funktionierte nicht.“ (S.30*)
Schließlich wurde es lebensbedrohlich. Die Fieberkurve stieg auf 40,5°C – worauf
seine Frau mit ihm so schnell es ging  ins Krankenhaus fuhr.  Nun, da er dem Tod
ins Auge blickte, gab es kein Verdrängen mehr: „Das Fieber und die Infektion
wirbelten meine Gedanken durcheinander. Während wir in Richtung Los Angeles
rasten, konnte ich an nichts anderes denken als an all das Negative in meinem
Leben, das sich mit den Stichworten Pechvogel, Krebspatient, infektionsanfällig,
suchtkrank, depressiv, materialistisch, fordernd, lieblos, egoistisch, wütend
zusammenfassen ließ.
Ich war wütend auf mich selbst, weil ich meine Krankheit verleugnet hatte. Ich bin
Arzt, warum habe ich nicht gemerkt, dass da etwas schrecklich falsch läuft? Die
Wahrheit ist, dass ich das sehr wohl wusste. Ich habe mich nur nicht entsprechend
verhalten. Wie die meisten Ärzte habe ich die Krankheit in meinem eigenen Kör-
per nicht angenommen und zahlte jetzt den Preis für diese Verleugnung.
Meine Wut übertrug sich aber auch auf andere Ereignisse in meinem Leben.
Zunächst einmal war ich wütend auf Gott, der mir diesen Prostatakrebs auferlegt
hatte. Was kann gut daran sein, eine so schreckliche Krankheit zu bekommen?
Womit habe ich so etwas verdient?
Und dann waren da die Schmerztabletten. Als mich meine Frau an diesem Abend
ins Krankenhaus fuhr, gestand ich mir endlich ein, dass ich die Schwelle zur Sucht
bereits überschritten hatte. Die medizinische Definition von Sucht ist, mehr zu
nehmen, als verschrieben wurde. Wegen der Operationen und ihrer Komplikati-
onen hatte man mir Schmerztabletten gegen die Schmerzen im Becken verschrie-
ben. Zunächst halfen sie mir, die Nachwirkungen der Operationen und die darauf
folgenden Infektionen zu überstehen. Aber weil die Schmerzen blieben, nahm die
Wirkung der Schmerzstiller immer mehr ab, was ein normales Arbeits- und Privat-
leben erschwerte. In meinem Wunsch, die Kontrolle zu behalten, nahm ich immer
mehr Schmerzmittel in immer höheren Dosen. Schließlich lernte ich, was einige
meiner Patienten längst wussten: wie schnell man zum Süchtigen wird, wo man
doch einfach nur schmerzfrei sein möchte.
Und es gab noch etwas. Die Kombination aus Krebs und meiner Tablettensucht
hatte mich depressiv gemacht. Um damit klarzukommen, hatte ich angefangen,
Antidepressiva zu nehmen. Bald hatte ich das Gefühl, dass sie für mein Wohlbe-
finden genauso notwendig waren wie die Schmerztabletten. Aufgrund meiner
eigenen medizinischen Kenntnisse und der von Suchtspezialisten im Krankenhaus
wusste ich, dass ich mich mindestens zwölf Wochen lang stationär behandeln
lassen musste, um meine Tablettensucht zu behandeln. Warum hatte ich die
Kontrolle über mein Leben verloren?
Ich dachte an meinen Sohn Raghav. Weil er mein Ältester ist, war ich viel härter
mit ihm umgegangen als mit meinen anderen Kindern, denn von ihm erwartete ich,
dass er in meine Fußstapfen trat. Aber er war jetzt  schon jahrelang an der  Medizi-
nischen Hochschule und machte sich nicht besonders gut. Obwohl er selbst auf die
Idee gekommen war, Medizin zu studieren, mangelte es ihm an Begeisterung, und
in seinen Noten spiegelte sich sein Desinteresse daran, Arzt zu werden. Dennoch
bestand ich darauf, dass er sein Studium fortsetzte.
Im Laufe der Jahre hatte ich die indische Theorie der Kindererziehung übernom-
men, an die sich mein Vater und mein Großvater gehalten hatten und die von einer
bekannten Redewendung auf den Punkt gebracht wird: „Ein krummer Nagel muss
mit dem Hammer begradigt werden.“ Und in der Tat, mein Vater hatte mich „be-
gradigt“, wie mein Großvater ihn begradigt hatte, wann immer er der Ansicht war,
dass ich mein intellektuelles Potenzial nicht angemessen nutzte. Körperliche Züch-
tigung war zwar damals in Indien eine gängige Form der Bestrafung, aber ich
schwörte, dass ich nie Hand an meine Kinder gelegt habe. Doch im Laufe der Zeit
machte ich mir die Wut meines Vaters zu eigen und bestrafte meine Kinder häufig
damit.
Jetzt hatte Raghav vermutlich Angst vor mir, hasste mich vielleicht sogar. Würde
ich eine Chance bekommen, es wieder gut zu machen? Das fragte ich mich, währ-
end das Auto durch diese endlose Nacht brauste. Wo ist mein Sohn jetzt? Warum
ist er nicht mit mir in diesem Auto, wenn ich ihn doch gerade so dringend brauche?
Als wir in der Notaufnahme der UCLA-Klinik ankamen, hatte meine Wut wie eine
Feuersbrunst jeden Teil meines Lebens erfasst, bis sie die Wahrheit berührte. Ich
bin für mein Leben verantwortlich. Ich hätte meinen Weg sorgfältiger auswählen
sollen.“ (S.32ff.*)
*)  Dr.Rajiv Parti / Paul Perry. „Erwachen im Licht“,
      2016, Ansata-Verlag