Kim Jong Un wird meist als “irrer” und nicht ganz zurechnungsfähiger Diktator
betrachtet.  Korrespondent und Asienexperte Matthias Naß weist hingegen in
seinem Buch “Countdown in Korea” darauf hin, dass seit seiner Machtübernahme
einiges besser geworden ist. Vor allem gibt es seit dem einen wirtschaftlichen
Aufschwung:
“Als Kim Jong Un nach dem Tod seines Vaters Ende 2011 die Macht übernahm,
versprach er den Nordkoreanern ein besseres Leben. Nie sollten “sie den Gürtel
wieder enger schnallen” müssen. Und tatsächlich geht es ihnen heute besser, das
Land hat seinen wirtschaftlichen Tiefpunkt überwunden. Es wird viel gebaut. Im
April 2017 wurde unter großem Propagandagetöse und in Anwesenheit des Führ-
ers Pjöngjangs die neue Prachtstraße Ryomyong eröffnet, ein breiter Boulevard,
gesäumt von modernen Hochhäusern. Auf den einst leeren Hauptstraßen der Stadt
fahren jetzt so viele Autos, schrieb die New York Times, dass einige Bewohner
ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sie zu waschen.
“Es hat sich ganz offenkundig eine neue Mittelschicht herausgebildet, die vor
allem in der Hauptstadt unübersehbar ist”, schreibt der Nordkoreakenner Rüdiger
Franz von der Universität Wien. “Man erkennt sie an Mobiltelefonen, dem Besuch
von Restaurants, dem Besitz und der Verwendung von Devisen, der Kleidung und
nicht zuletzt auch an der selbstbewussten Körpersprache.”
Zwar bleibe auch in der Provinz die Zeit nicht stehen. “Der Unterschied zwischen
Pjöngjang und dem Rest des Landes ist dennoch enorm. Die Hauptstadt ist bei-
nahe eine andere Welt. Sie war schon immer der Sitz einer auserwählten Elite, der
Zuzug war streng geregelt. Es scheint, dass mit den Segnungen der schönen neuen
Konsumwelt der Vorsprung noch größer und augenscheinlicher geworden ist. (....)
Nach Angaben der südkoreanischen Zentralbank wuchs Nordkoreas Brutto-
inlandsprodukt 2016 um 3,9 Prozent, der stärkste Anstieg seit siebzehn Jahren.
Wie ist das möglich?
Erste Erklärung: Die Sanktionen werden umgangen, auf Schleichwegen kommt
vieles ins Land und es wird manches exportiert, was eigentlich verboten ist. Die
Grenzen nach China und Russland sind längst nicht so dicht, wie es nach den
Buchstaben der UN-Beschlüsse sein müsste. (...)
Zweite Möglichkeit: Die Nordkoreaner, gut ausgebildet, diszipliniert und hart
arbeitend, trotzen auch widrigen Umständen.
Dritter denkbarer Grund: Die vorsichtigen Reformen, die Kim Jong Un
angestoßen hat, beginnen zu wirken.
Die dritte Erklärung ist wohl die wichtigste. Nordkorea gibt seinen Bürgern seit
einiger Zeit mehr Raum für private Initiativen. Die Reformen haben ihren
Ursprung in der verheerenden Hungerkatastrophe der Jahre 1995 bis 1997. Der
damalige Zusammenbruch der staatlichen Lebensmittelversorgung wirkt als
Trauma bisw heute nach. Es wären noch viel mehr Menschen gestorben, hätte das
Regime nicht die illegalen Bauernmärkte geduldet, die damals überall im Land
entstanden. Heute darf nicht nur jede Bauernfamilie ihren eigenen kleinen
“Küchengarten” haben. Die Bauern können auch 30 Prozent ihrer Ernte selbst
vermarkten, die anderen 70 Prozent müssen sie an den Staat abführen. Nach einer
Studie des Korea Development Institute in Seoul kaufen inzwischen mehr als 85
Prozent der Nordkoreaner ihre Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs auf
den freien Märkten, nicht mehr in den staatlichen Läden.
Gleichzeitig die Wirtschaft und die Kernwaffen entwickeln: Dies ist der Kern der
Politik Kim Jong Uns, die er 2013 verkündet hat. Sein Kurs, “Byungjin-Linie”
genannt, scheint bisher recht erfolgreich zu sein - auf beiden Gebieten.  Die Wirt-
schaft wächts tatsächlich, auch weil die vorsichtigen Reformen, die der Staat mehr
duldet als offiziell vorantreibt, weit über die Landwirtschaft hinausgehen.
So hat sich eine Schicht von Händlern, Handwerkern und Besitzern kleiner Be-
triebe herausgebildet, der inzwischen eine Million der 25 Millionen Nordkoreaner
angehören sollen. Donju werden sie genannt, “Menschen mit Geld”. Einige von
ihnen haben es zu beträchtlichen Wohlstand gebracht, etwa als Subunternehmer
großer staatlicher Betriebe. Dreißig Prozent ihrer Gewinne wandern an die Partei-
kader, halb Steuer, halb Bestechung. In Südkorea ist von “roten Kapitalisten” die
Rede. Lee Byung Ho, damals Geheimdienstchef in Seoul, schätzte im Frühjahr
2017, dass mittlerweile 45 Prozent der Nordkoreaner in der einen oder anderen
Weise privatwirtschaftlich aktiv seien.
Für die “happy few” der Funktionärselite und der neuen Unternehmerschicht gibt
es heute in Pjöngjang Vergnügungen, an die vor zehn Jahren nicht zu denken war
und die für die weitaus meisten Nordkoreaner noch lange unerschwinglich bleiben
werden. Sie können sich entscheiden zwischen dem Mirim Reitclub. Sie können
Pizza und Hamburger essen, aber auch in teuren Restaurants speisen. Sie finden
Bars und Cafes in ihrer Hauptstadt, Tennisplätze, Fitnessclubs und eine Bowling-
Bahn. Sie investieren aber auch in die Erziehung ihrer Kinder und bezahlen
private Lehrer dafür, dass sie dem Nachwuchs Klavierunterricht geben oder bei
Englisch und Mathematik nachhelfen.
Raumschiff Pjöngjang! Mit der Lebenswirklichkeit der Mehrheit hat dies alles
nichts zu tun. Ihre Lebensverhältnisse bleiben ärmlich. Und der Abstand zu den
Verwandten im Süden wächst weiter von Jahr zu Jahr.
Kim JongUn will das ändern. Deshalb duldet er marktwirtschaftliche Elemente.
Nordkorea sei kein “stalinistischer Themenpark” mehr, schreibt Andrei Lankov,
ein russischer Koreanist, der einst in Pjöngjang studierte und heute an der
Kookmin-Universität in Seoul lehrt.
Kims Politik in die Tat umsetzen soll Ministerpräsident Pak Pong Ju. Er hatte
dieses Amt schon einmal inne, wurde aber 2007 von Kims Vater Kim Jong Il
gefeuert, offenbar, weil dem “Geliebten Führer” der reformerische Eifer Paks zu
weit ging. Im April 2013 kehrte er auf seinen Posten zurück. (...)
Andrei Lankov zitiert einen russischen Diplomaten, der ihm 2010 sagte: “Die
Angehörigen der Mittelklasse in Pjöngjang fühlen sich heute ziemlich wohl. Sie
haben ihre hübschen Wohnungen. Sie können in netten Restaurants essen gehen.
Und neuerdings können sie sogar ihr eigenes Auto fahren. Das einzige Problem:
Theoretisch kann nach den geltenden Gesetzen jeder von ihnen verhaftet und
erschossen werden.” (...)
Nordkorea-Experte John Delury ist überzeugt, Nordkorea würde sein Atom-
programm aufgeben, nähme man ihm nur seine Sicherheitssorgen. “Nordkorea
wird erst dann beginnen, sich auf einen Wohlstand statt auf seine Selbsterhaltung
zu konzentrieren, wenn es sich keine Sorgen mehr um seine Zerstörung machen
muss.”
Delury glaubt, Nordkorea würde sich wirtschaftlich gern in das blühende Nordost-
asien integrieren. Aber gerade daran sind Zweifel erlaubt. Noch immer schottet
sich das Land nach Kräften ab, auch wenn die Grenzen dank der digitalen
Revolution durchlässiger werden. (....)
Kooperationen mit dem Ausland soll es nach dem Wunsch Pjöngjangs dennoch
geben. Deshalb hat die Führung rund ein Dutzend Sonderwirtschaftszonen einge-
richtet. Viel tut sich dort bisher allerdings nicht, eine Folge der mangelnden Infra-
struktur und der Sanktionen.
Von diesen zunächst unberührt arbeitete der Industriepark Kaesong, ein paar
Kilometer nördlich der Demilitarisierten Zone gelegen. Dort hatten südkoreani-
sche Unternehmen moderne Fabriken gebaut, in denen 53.000 Nordkoreaner einen
Arbeitsplatz fanden. Diese von Seoul und Pjöngjang gemeinsam betriebene Wirt-
schaftszone war das bis heute hoffnungsvollstes Zeichen einer möglichen Annähe-
rung zwischen den beiden koreanischen Staaten. Aber im Februar 2016 zog die
damalige südkoreanische Präsidentin Park Geun Hye aus Protest gegen den
vierten Atomtest des Nordens alle Südkoreaner aus Kaesong ab.
Ob Kim Jong Un auf Dauer wirklich die Wirtschaft des Landes und seine Atom-
waffen parallel entwickeln kann? Zweifel sind erlaubt. Schmuggel und kleiner
Grenzverkehr können die Wirkung der über Nordkorea verhängten Sanktionen
kaum abschwächen. Der Widerspruch zwischen beiden Zielen ist offenkundig. Da
aber Kim von seiner nuklearen Aufrüstung nicht lassen wird, weil er glaubt, nur
sie garantiere ihm das politische Überleben, wird die Wirtschaft den erhofften
Aufschwung nicht nehmen können.
7.12.2017
   Quelle: Matthias Naß, “Countdown in Korea - Der gefährlichste Konfikt der Welt
            und seine Hintergründe”, 2017, Verlag C.H.Beck oHG, S.115 ff. 
Nordkoreas wirtschaftlicher Aufschwung