Der Atomunfall von Fukushima hätte noch viel schlimmer ausgehen
können, nur Zufälle bewahrten Japan vor einem Kollaps, sagt der
damalige Premier Naoto Kan. Er erwog sogar, die Mega-Metropole
Tokio zu evakuieren.
SPIEGEL ONLINE: Herr Kan, als Regierungschef kämpften Sie am 11. März
2011 und den Tagen danach mit den Folgen des Atomdesasters von
Fukushima. War die Lage damals ernster, als die Welt ahnte?
Kan: Wir sind nur um ein Haar einer noch viel schlimmeren Katastrophe
entgangen. Hätten wir damals auch Tokio und Umgebung mit insgesamt 50
Millionen Menschen evakuieren müssen, hätte das den Kollaps unseres
Landes bedeutet. Die Hauptstadt liegt nur etwa 250 Kilometer von Fukushima
entfernt. Dass es dazu nicht gekommen ist, verdanken wir letztlich zweierlei:
Dem aufopferungsvollen Einsatz des Personals des Stromversorgers Tepco.
Zum anderen kam uns eine Reihe glücklicher Zufälle zu Hilfe. Ich kann das nur
als göttliche Fügung bezeichnen.
SPIEGEL ONLINE: Japans Kernkraftwerke galten bis dahin als absolut sicher.
Tatsächlich aber hing alles nur von Zufällen ab?
Kan: Ja. Dass sich damals beispielsweise im Abklingbecken für die Brennstäbe
des Reaktors Nr. 4 noch Wasser befand, lässt sich nur mit glücklichen
Umständen erklären. Außerdem waren in den Sicherheitsbehältern Nr. 1 bis 3
Löcher entstanden, durch die Druck entweichen konnte. Wären Behälter
geplatzt, hätte es viele Opfer gegeben. Und die Anlage wäre so stark verstrahlt
worden, dass sich Rettungskräfte ihr nicht mehr hätten nähern können.
SPIEGEL ONLINE: Auch Sie selbst hatten als Premier ja zunächst an den
Mythos der sicheren Atomkraft geglaubt.
Kan: Nach meinen Erfahrungen mit Fukushima habe ich meine Einstellung um
180 Grad geändert: Jetzt setze ich mich dafür ein, dass wir die Kernkraft in
Japan und möglichst in der ganzen Welt aufgeben.
SPIEGEL ONLINE: Immer wieder fließt in Fukushima radioaktiv verseuchtes
Wasser in den Pazifik. Gleichwohl betreibt der jetzige Premier Shinzo Abe den
Neustart heimischer Kernkraftwerke, die nach dem Fukushima-Unfall
abgeschaltet wurden.
Kan: Ich halte das für völlig falsch. Jetzt, da wir wissen, welch hohe Risiken
Kernkraftwerke bergen, sollten wir sie abschaffen und alternative Energie-
quellen entwickeln, wie es Deutschland bereits beschlossen hat.
SPIEGEL ONLINE: Warum hält die japanische Regierung hartnäckig an der
Kernkraft fest - gegen die Mehrheit der Bevölkerung?
Kan: Das lässt sich vor allem mit den Interessen der Stromversorger,
Bürokratie und der Industrie erklären.
Quelle und gesamter Artikel: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ex-premier-ueber-fukushima-
die-frage-war-ob-japan-untergeht-a-1056836.html
Buch von Naoto Kan:
“Als Premierminister
während der Fukushima-
Krise”
Hilfskräfte und das Personal
von Tepco wurden in diesen
Stunden der Not zu Helden