Mathilde Schwabeneder beschreibt die Gründe von Marys Flucht folgende-
maßen: „Marys Heimatland gehört zu den reichsten Ländern Afrikas. Trotz des
Ressourcenreichtums lebt jedoch mehr als die Hälfte der Menschen im
bevölkerungsreichsten Land des Kontinents in bitterster Armut. Der sich
immer weiter ausbreitende religiöse Terror verschärft die explosive Lage
zusätzlich. Die radikalislamische Gruppe Boko Haram entführt Mädchen, tötet
wahllos Menschen, brennt Dörfer und Kirchen nieder und verbreitet Angst und
Schrecken.
Auch Marys Familie ist arm. Die Eltern wussten, dass ihr Tochter so gut wie
keine Chancen hat, einmal ein erträgliches Leben zu führen. So wie Zigtausen-
de andere nigerianische Frauen und Mädchen sollte daher auch Mary ihr
Heimatland verlassen und nach Italien gehen.
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs glaubt Mary an die guten Absichten ihrer
Eltern, die Tochter in ein sicheres Land bringen zu lassen. Ihre Mitbewohner-
innen sehen das jedoch weniger positiv. Sie glauben, sie sei verkauft worden.
Vielleicht nicht von den Eltern, doch ganz sicher von jemanden aus ihrem Dorf.
Das schöne junge Mädchen sollte auf einem der vielen Straßenstriche in
Italiens Städten landen. Laut Angaben der Stiftung „Migrantes“ (April 2015)
wird die Zahl der Migrantinnen, die in Italien zur Prostitution gezwungen
werden, auf 30.000 geschätzt. Rund ein Drittel kommt allein aus Nigeria.
Mary war noch minderjährig, als sie ihre gewohnte Umgebung verließ. Ihr Weg
führte über die nordnigerianische Stadt Kano nach Niger und Libyen. Ihr
Schicksal war ihr nicht klar. Viele Nigerianerinnen verlassen ihr Land im
Glauben, ihre Familie finanziell helfen zu können, und erkennen erst nach ihrer
Ankunft in Europa die bittere Wahrheit.
Über die Begleitumstände ihrer monatelangen Odysse durch halb Afrika
schweigt Mary auch jetzt noch. Doch eines ist klar: In Libyen wurde sie verge-
waltigt. An verschiedenen Orten und von verschiedenen Männern.  Bis sie
eines Tages feststellte, dass sie schwanger war.
Das trieb die junge Frau noch tiefer in den Sog der Menschenhändler. Mary war
in den Augen ihrer Ausbeuter nichts als eine Ware, die möglichst schnell an
ihren Zielort gelangen sollte. Und die ihnen gleichzeitig Geld schuldete.
Mit jedem Schritt, den sie Richtung Italien machte, wurden ihre Schulden
größer. Einmal angekommen, würde sie durch ihre Tätigkeit als Prostituierte
alles zurückzahlen müssen.“ (S.103 ff.)
Als die junge Frau schließlich auf der Insel Lampedusa ankam, sollte sie gleich
wieder in ihr Heimatland zurückgeschoben werden. Das ist kein Einzelfall, denn
es gibt ein Abkommen zwischen Italien und Nigeria, das zum Ziel hat,
Menschenhandel und Zwangsprostitution zu bekämpfen. 
Doch wie gesagt, hatte Mary noch „Glück“. Denn sie war bereits im siebten
Monat schwanger. Eine Abschiebung war damit ausgeschlossen, denn das
Gesetz erlaubt keine Rückführung von Schwangeren. So landete sie schließlich
in der Betreuung einer bekannten Hilfsorganisation.
Und wie ging es dann mit Mary weiter?  Mathilde Schwabeneder :„ Zwei Monate
nach ihrer Ankunft bei der Menschenrechtsorganisation schenkte Mary einem
gesunden Buben das Leben. Die Wochen davor waren voll Zweifeln gewesen.
Die junge Frau war nicht sicher, ob sie dieses ungewollte Kind behalten wollte.
Die Betreuerinnen klärten sie auf, dass sie frei sei, sich für die Freigabe zur
Adoption zu entscheiden. Niemand würde sie verurteilen oder geringschätzen.
Als Mary jedoch den Kleinen erstmals stillte, entschied sie sich für ihn. Die
Mitbewohnerinnen im Frauenhaus haben beide „adoptiert“. Sie unterstützen
und beschützen sie. Mary wird abgeschirmt, denn die Menschenhändler haben
sich nicht abschütteln lassen. Sie haben die junge Frau gesucht. Sie haben
ihre Familie in Nigeria erpresst und beide nach Voodoo-Manier bedroht. Doch
Mary ist fest entschlossen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Sie will
in Italien bleiben und lernt die Sprache des Landes.
Ihre Peiniger hatten hingegen eine andere Destination im Sinn gehabt. Die
schöne junge Nigerianerin sollte als Prostituierte in Österreich arbeiten.“
(S.104ff.) 
Quelle:  Mathilde Schwabeneder, „Auf der Flucht“, 2015 by Verlag Kremayr  &
                    Scheriau GmbH & Co.KG, Wien,