Die beiden hatten sich am Konzil in Rom kennengelernt. Und beide waren Reformer.
Beide traten für eine Aufwertung der Laien in der Kirche ein und die Aufwertung
der Ortskirchen gegenüber Rom. Doch während es für Ratzinger unbestritten war,
dass „das Zentrum  des christlichen Glaubens nur die Offenbarung Gottes sein kann,
die sich jeder Abstimmung entzieht“,  wurde der theologisch-biblische Volksbegriff
nun von  „Reform-Theologen“ wie Hans Küng im marxistischen Sinne umgedeutet. 
„Man war in Rom  angetreten, um den Glauben in seiner ganzen Wucht in die
Gegenwart zu tragen. Doch viele verstanden unter „Reformen“ nicht seine
Erneuerung, sondern seine Verwässerung.“
So stießen in Tübingen zwei Männer aufeinander, „die nicht unterschiedlicher sein
konnten. Während Hans Küng im Alfa Romeo vorfuhr, kam Joseph Ratzinger auf
seinem rostigen Drahtesel zu den Vorlesungen geradelt. Während sich der
flamboyante Küng lautstark zur Galionsfigur der Progressiven aufschwang, leistete
Ratzinger zunächst stillen Widerstand. Wer behauptet, er sei in Tübingen zum Lager
der Konservativen übergewechselt, verkennt ihn allerdings gründlich. Er ist sich nur
treu geblieben, hat sein Fähnchen nicht nach dem Wind des Zeitgeistes gedreht.“
                                                         Die 68er-Revolte
Der Konflikt fand vor der Kulisse der 68er-Revolte statt. Die Studentenbewegung
sollte „den Muff aus tausend Jahren“ aus den Talaren vertreiben. Die Eltern-
generation wurde der Mitschuld an Nazi-Terror und Judenmord, der Selbstab-
solution und Spießigkeit angeklagt.  Man träumte von freier Liebe und Autonomie,
neuer Musik und neuen Werten. Definierte sich die westliche Welt damals in ihrer
Abgrenzung zum Kommunismus, liebäugelte die Generation der Revolutionäre mit
Marx. Der Marxismus wurde zur neuen Heilslehre, die Gott ausschaltet und durch
das politische Handeln des Menschen ersetzt. Nicht Christus brachte die Erlösung,
sie muss erst in der Weltrevolution erkämpft werden! Damit war klar, dass
Marxismus und Christentum von Grund auf unvereinbar sind. Doch trotzdem gab es
„progressive“ Theologen, die eben diesen Spagat versuchten, ohne dabei zu merken,
dass sie den festen Boden des Glaubens längst verlassen hatten.
Joseph Ratzinger hatte auch in Tübingen nie Schwierigkeiten mit seinen Studenten,
seine Vorlesungen waren nach wie vor überfüllt. Doch als in Theologenzirkeln
Flugblätter kursierten, in denen unter dem Slogan „Verflucht sei Jesus!“ das Kreuz
als „Ausdruck sadomasochistischer  Schmerzverherrlichung“ bezeichnet wurde,
konnte er nicht mehr schweigen. Es wäre ihm wie ein Verrat erschienen, wenn er sich
in die Ruhe des Hörsaals zurückgezogen hätte. Im Dritten Reich hatte er erlebt, dass
politische Selbsterlösungslehren ins Verderben führen. Während er anfangs noch
Verständnis „für das Aufbegehren gegen einen Wohstandspragmatismus“ hatte,
endete diese Toleranz, als Gewalt und Psychoterror begannen. In seinen
Erinnerungen schrieb er: „In diesen Jahren lernte ich, wann eine Diskussion aufhören
musste, weil sie sich in eine Lüge wandelte, und Widerstand einsetzen muss, um die
Freiheit zu erhalten.“
Als Joseph Ratzinger die Gefahren erkannte, die hier für die Kirche und das
Christentum heraufzogen,  gründete er gemeinsam mit evangelischen Theologen ein
Aktionsbündnis, „um eine Vermurksung der Fakultät durch die Marxisten zu
verhindern.“  Und er startete eine Vorlesungsreihe, die später unter dem Titel
„Einführung in das Christentum“ als Buch erschien und in 17 Ländern zum
Beststeller wurde. Darin rühmte er die „Schönheit des Glaubens“. Die einmalige
Klarheit und sprachliche Eleganz, mit der dies geschah, brachte ihm dabei den Ruf
eines „Mozarts der Theologie“ ein.
Dieses Buch wurde nicht nur ein großer Erfolg, sondern es sollte auch noch in einer
anderen Weise eine wichtige Rolle für sein künftiges Schicksal spielen:  Zwei Männer
wurden durch die Lektüre dieses Buches auf Joseph Ratzinger aufmerksam:  Karol
Wojtyla, damals Erzbischof von Krakau, hatte bei der Lektüre dieses Buches den
Eindruck „einen Bruder im Geiste“ gefunden zu haben. Und auch Papst Paul VI. war
von dem Werk so begeistert, dass Ratzinger 1969 in die päpstliche
Theologenkommission berufen wurde.
Quelle: G.R., “Mein Bruder, der Papst, Anm.Hesemann, S.213 ff.