Verspottung erstes Wort Jesu am Kreuz
Nach der Kreuzigung der Schächer und Teilung der Kleider des Herrn rafften
die Schergen alle ihre Geräte zusammen, schmipften und höhnten Jesus und
zogen von dannen. Auch die übrigen anwesenden Pharisäer zu Pferd setzten
sich in Bewegung, ritten um  den Kreis vor das Angesicht Jesu, höhnten ihn mit
vielen schmählichen Worten und ritten von dannen. Ebenso zogen die hundert
römischen Soldaten mit ihren Führern vom Berg und aus der Gegend ab, denn
es zogen fünfzig andere römischen Soldaten herauf und besetzten die Posten.
Der Hauptmann dieser neuen Schar war Abenadar, ein geborener Araber, der
später Ktesiphon getauft ward, und der Unteroffizier hieß Cassius, er war eine
Art Beiläufer des Pilatus und erhielt später den Namen Longinus.
Es ritten auch von neuem einige Älteste herauf, worunter jene wiederkehrten,
die abermals vergeblich von Pilatus eine andere Inschrift für den Kreuztitel
begehrt hatten. Er hatte sie gar nicht einmal vor sich gelassen. Sie waren um so
erbitterter. Sie ritten um den Kreis und vertrieben die heilige Jungfrau, welche
sie ein loses Weib nannten; sie ward von Johannes zu den zurückstehenden
Frauen gebracht, Magdalena und Martha hatten sie in den Armen.
Wenn sie, das Kreuz umziehend, vor das Angesicht Jesu kamen, schüttelten sie
verächtlich den Kopf und sagten: „Pfui über dich, Lügner! Wie zerbrichst du
den Tempel und baust ihn wieder in drei Tagen?“ – „Andern hat er immer
helfen wollen und kann sich selbst nicht helfen“, - „ist er der König Israels, so
steige er vom Kreuz nieder, so wollen wir ihm glauben.“ – „Er vertraute Gott,
der helfe ihm nun“. Auch die Soldaten spotteten und sagten: „Bist du der
Judenkönig, so hilf dir nun.“
Als Jesus noch in der Ohnmacht so elend hing, sagte Gesmas, der Schächer zur
Linken: „Sein Teufel hat ihn nun verlassen.“  (….)
Jesus aber richtete sein Haupt etwas auf und sagte: „Vater!“ vergib ihnen, denn
sie wissen nicht, was sie tun“, und betete still weiter. -  Da rief Gesmas: „Bist
du Christus, so hilf dir und uns!“ Das Höhnen währte fort, aber Dismas, der
rechte Schächer, ward tief gerührt, als Jesus für seine Feinde betete, und da
Maria ihres Kindes Stimme hörte, konnte ihre Umgebung sie nicht mehr
zurückhalten, sie drang in den Kreis. Johannes, Salome und Maria Cleophä
folgten ihr, und der Hauptmann vertrieb sie nicht.
Dismas, der rechte Schächer, erhielt durch das Gebet Jesu einen inneren Strahl
der Erleuchtung, als die heilige Jungfrau herzutrat, und er erkannte innerlich,
dass Jesus und seine Mutter ihm als Kind schon geholfen, und er erhob seine
Stimme ganz mächtig und laut und sagte ungefähr folgendes: „Wie ist es
möglich, ihr lästert ihn, und er betet für euch, er hat geschwiegen und geduldet
und betet für euch, und ihr lästert, er ist ein Prophet, er ist unser König, er ist
Gottes Sohn!“  Über diese unerwartete Strafrede aus dem Mund des elend
hängenden Mörders entstand ein Tumult unter den Spöttern, und sie suchten
Steine und wollten ihn am Kreuz steinigen. Der Hauptmann Abenadar aber
wehrte ab, ließ sie auseinandertreiben und stellte Ordnung und Ruhe wieder
her.
Unterdessen fühlte sich die heilige Jungfrau ganz gestärkt durch Jesu Gebet,
und Dismas sagte zu Gesmas, welcher zu Jesus hinschrie: „Wenn du Christus
bist, so helfe dir und uns!“ – „Und auch du fürchtest dich nicht vor Gott und
leidest doch gleiches Urteil; wir aber sind mit Recht in dieser Peinigung, denn
wir empfangen den Lohn unserer Taten, dieser aber hat nichts Unrechtes getan.
Oh! Bedenke deine Stunde und wende deine Seele um“, usw. Er war aber ganz
erleuchtet und gerührt und bekannte Jesus seine Schuld, sprechend: „Herr,
wenn du mich verdammst, so geschieht mir recht, aber erbarme dich meiner.“ 
Und Jesus sagte zu ihm: „Du sollst meine Barmherzigkeit erfahren.“ Dismas
erhielt nun die Gnade einer tiefen Reue eine Viertelstunde lang.
Das zuletzt Erzählte geschah meistens alles zugleich und dicht hintereinander
von 12 bis ½ 1 Uhr nach der Sonne, ein paar Minuten gleich nach der
Kreuzaufrichtung: aber es wendete sich schnell alles anders in der Seele der
meisten Zuschauer, denn noch unter den Reden des reumütigen Schächers
geschah in großes Zeichen in der Natur und erfüllte alle mit Angst.
Quelle: Anna Katharina Emmerich, „Das bittere Leiden unseres
                   Herrn Jesus Christus“,