Der gekreuzigte Jesus und die Schächer
Nach dem heftigen Stoß des aufgerichteten Kreuzes vergoß das Haupt Jesu,
das, mit der Dornenkrone beschwert, heftig erschüttert wurde, reiche Ströme
von Blut, und auch von den Händen und Füßen Jesu tropften Ströme seines
heiligen Blutes nieder. Die Schergen aber stiegen nun auf Leitern hinan und
lösten die Stricke von dem heiligen Leib, mit welchen sie ihn an den Kreuzes-
stamm gebunden hatten, auf dass er bei dem Aufrichten nicht aus den Nägeln
reiße. Nun drang der durch die ebene Lange und das Schnüren veränderte
Blutkreislauf in der senkrechten Lage in neue Bewegung. Alle Schmerzen
weruden neu und ganz betäubend, und Jesus senkte das Haupt auf die Brust
und hing wohl sieben Minuten ohnmächtig wie tot.
Es war eine kurze Ruhe umher, die Kreuziger waren mit der Teilung der
Kleider Jesu beschäftigt, das Posaunengetön vom Tempel verhallte in der Luft.
Alle Anwesenden waren in Grimm und Schmerz erschöpft, und ich sah meinen
Jesus, mein Heil, der Welt Heil, unbeweglich wie tot, in Schmerzen ohnmäch-
tig, und schaute ihn an mit Ernst und Schrecken und Mitleid, auch ich war dem
Tode nah und glaubte, eher zu sterben als zu leben.
Offenbar erlitt Anna Katharina Emmerich während dieser Vision dieselben
Schmerzen wie Jesus damals am Kreuz: „Mein Herz war voll Bitterkeit und
Liebe und Leid, mein Haupt war wie wahnsinnig von einem Dornennest von
Stacheln umgeben, meine Hände und Füße waren wie Glühöfen von Pein, es
rissen und zuckten tausend Blitze unsäglicher Schmerzen durch all meine
Adern und Nerven und begegneten sich in allen inneren und äußeren Gliedern
meines Leibes und kämpften, wo sie sich begegneten, und wurden eine Quelle
neuer Qualen, und alles dieses ent-setzliche Leiden war doch lauter Liebe, und
alles dieses zuckende Feuer der  Schmerzen war doch eine Nacht, in welcher ich
jetzt nichts sah als meinen und aller Seelen gekreuzigten Bräutigam, und ich
schaute ihn an mit großem Jam-mer und Trost.“
Quelle: Anna Katharina Emmerich, „Das bittere Leiden unseres
              Herrn Jesus Christus“, Christiana-Verlag, CH-8260 Stein
               am Rhein/Schweiz, 17. Auflage 1996, S.251ff.