“Viele Muslime und Christen waren gut miteinander befreundet und feierten
gemeinsam das Fest des Fastenbrechens, Weihnachten und das christliche
Neujahr. Altägyptische, arabisch-patriarchalische, koptische und muslimische
Traditionen und Riten waren synkretistisch verschmolzen und prägten das
Leben der Angehörigen beider Religionen. Die Moralvorstellungen beider
Gruppen sind bis heute beinahe identisch. Grausame Bräuche, die in ihrem
Ursprung weder islamisch noch christlich sind, wie die Beschneidung von
Frauen, wurden von Angehörigen beider Religionen praktiziert.
Obwohl die Hauptstadt Kairo nur sechzig Kilometer entfernt ist, war der
Einfluss der modernen Zivilisation auf unser Dorf damals noch gering. Die
meisten Bewohner lebten vom Ackerbau und von einfachen Dienstleistungen.
Begriffe wie der Dschihad waren bis zu diesem Zeitpunkt kein Bestandteil des
religiösen Diskurses in meiner Umgebung. Religiöse Symbole und latent
antiwestliche Rhetorik  kamen erst mit der Rückkehr mehrerer hundert
ägyptischer Gastarbeiter aus Saudi-Arabien Ender der achtziger, Anfang der
neunziger Jahre in unser Dorf.
Diese Remigranten, die in der Regel nur über eine geringe religiöse und
akademische Bildung verfügten, brachten ein streng konservatives, wahha-
bitisch gefärbtes Verständnis des Islam mit, wie es die Ägypter vorher nicht
gekannt hatten. Diese Männer ließen sich einen langen Bart wachsen, trugen
saudische, traditionelle Kleidung und befahlen auch ihren Frauen, „islamische
Kleidung“ zu tragen, so dass viele sich komplett verhüllten.
Diese Männer wurden während des 2.Golfkrieges und durch die zunehmende
Präsenz westlicher Soldaten in Saudi-Arabien politisiert. Sie kehrten mit vielen
Erzählungen und Legenden über die afghanischen Mudschaheddin und die
Kämpfer der palästinensischen  Intifada zurück. Aber diesen Heimkehrern
gelang es nicht, ihre neuerworbene Ideologie  und ihre politische Einstellung
erfolgreich zu verbreiten.  Sie und ihre Anhänger blieben eine Minderheit und
wurden von den restlichen Dorfbewohnern scherzhaft die „Langbärte“
genannt.“  S. 201 ff. 
Quelle:  Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”