Die “dunkle Nacht der Seele”
Die neunmonatige Zeit im Kerker erlebte Johannes vom Kreuz neben dem
Schrecken des "horror vacui" - dem Schrecken der Leere - als eine Zeit der
Reinigung. Im Kerker erfuhr er in der Dunkelheit die Gegenwart Gottes:
Ähnlich wie die "sieben Wohnungen der inneren Burg" Teresa von Avilas sieht
auch Johannes die Vereinigung mit dem Göttlichen in verschiedene Entwick-
lungsstadien gegliedert. So setzen die Erkenntnisse der "Dunklen Nacht" einen
Prozess voraus, den Johannes vor allem in der Schrift "Aufstieg auf den Berg
Karmel" beschreibt.
"Die Seele muss Gott ein liebevolles Aufmerken entgegenbringen."
Dieses "liebende Aufmerken" ist ein Horchen nach innen, denn Gott ist im
Menschen anwesend.
"Die Mitte der Seele ist Gott."
Sagt Johannes vom Kreuz. Doch das erleben nur wenige Menschen, weil im
Alltag die Sinne, der Verstand und der Wille des Menschen laut und überaktiv
sind. Doch wahres Gotteserleben bedarf der Stille. Es bedarf "liebender Auf-
merksamkeit", die ohne eine konkrete Vorstellung von Gott erwartungslos
lauscht und schaut.
Im Gegensatz zum Sich-Aktiv-Sich-Vorbereiten auf dem Weg zum "Berg
Karmel der Gottesvereinigung" erlebt der Mensch im nächsten Stadium das
Wirken Gottes eher passiv als dunkle Kraft, die ihr Licht vorübergehend
verbirgt und sich als Dunkelheit zeigt. Wer sich der dunklen Nacht der Seele
hingibt, den erwartet in der Gottesvereinigung reiche Belohnung:
"Sie bewirkt in der Seele eine intensive, zärtliche und tiefe Wonne, die man mit
sterblicher Zunge nicht ausdrücken kann und alles menschliche Verstehen
übersteigt. Denn eine in Gott geeinte und verwandelte Seele atmet in GOTT
und zu GOTT die gleiche göttliche Sehnsucht wie Gott sie atmet zur Seele.
Jeder lebt in dem Andern und der eine ist der Andere und beide sind eins durch
liebende Verwandlung. Ich lebe, aber nicht ich. Christus lebt in mir."