Mir waren alle Karten des Identitätspokers ausgegangen. Es war sehr schmerzhaft,
zu erkennen, dass ich in meinem Leben nicht der Treibende, sonder der Getriebene
war. Ich vermochte mein eigenes Verhalten nicht zu verstehen, und mir war klar,
dass ich diese Schizophrenie nicht länger ertragen konnte. Ich litt unter schreck-
lichen Rückenschmerzen, und meine Wutanfälle häuften sich, genauso wie der
Drang, meine Aggressionen in physischer Gewalt auszudrücken. Deutschland war
mein Feind geworden, und ich war bereit, Gewalt gegen Deutsche auszuüben. Ich
hätte eine solche Gewaltanwendung aber nie rational oder religiös begründen
könne. Das Religionsverständnis meines Vaters, von dem ich mich nie gelöst habe,
ließ militante Ideologien für mich unattraktiv erscheinen.
Da ich keine Legimitation für Gewalt gegen meine Umgebung hatte, richtete sich
diese Gewalt zunehmend gegen mich selbst. Und so kam es, wie es kommen
musste: Ich brach zusammen. Ich fing an, mich jeden Tag zu geißeln. Ich litt
zunehmend an Amnesie. Es gab Tage, an denen ich nicht wusste, wo ich eine
Stunde zuvor gewesen war und was ich gemacht hatte. Einmal saß ich in der
Straßenbahn, als eine Gruppe von Schulkindern in der Begleitung von zwei Lehrer-
innen einstieg. Als ich die Kinder sah, geriet ich in Panik. Ich musterte jedes Kind,
und die Lehrer und die Kinder betrachteten mich skeptisch.
Plötzlich stand ich alleine mitten im Wald, und es war dunkel. Sechs Stunden
meines Lebens waren verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dort hinge-
kommen war und wo ich mich befand. Eine Welle der Angst überlief mich. Was hatte
ich getan? Ich konnte die Vorstellung nicht abschütteln, eines der Schulkinder
entführt und vergewaltigt zu haben. Ich begann zu schreien. Ich bildete mir ein,
Stimmen zu hören und weinende Zwerge zu sehen. Stundenlang lief ich umher, bis
ich einen Weg nach draußen fand. Ich kam spät nach Hause. Antonia war über
meinen Zustand erschrocken. Sie fragte mich, was los sei. Ich erzählte es ihr nicht.
Von nun an erfüllte mich jede unerwartete Geste oder Stimme mit Angst. Die Sirene
eines Polizeiwagens oder das Geräusch eines Staubsaugers löste in mir Panik-
zustände aus. Jeden Tag hörte ich die Nachrichten und hatte Angst, etwas über ein
verschwundenes Kind in Augsburg zu hören. Antonia versuchte mit mir zu reden,
aber ich war ihr gegenüber verschlossen.
Einmal ging sie mit mir im Winter an einem gefrorenen See spazieren. Die Warnung
“Betreten auf eigene Gefahr!” sprach mich magisch an. Ich ließ Antonia stehen und
lief auf den See hinaus. Antonia stand am Ufer und bat mich weinend und schreiend,
zurückzukommen. Ich ging immer weiter hinaus. Ich trampelte mit meinen Füßen,
aber das Eis war zu dick. Antonia kam schnell zu mir gelaufen, fasste mich am Arm
und weinte bitter. Sie brachte mich nach Hause. Ich bewunderte die Kraft und den
Mut, die Antonia gezeigt hat.”
Schließlich war es auch Antonia, seine damalige Ehefrau (er hatte sie in Kairo als 
Touristin kennengelernt und war dann zu ihr nach Deutschland gezogen), die ihn
überredete, professionelle Hilfe zu suchen: “Ich stimmte zu, nicht weil ich mir von
der Therapie etwas erhofft hätte, sondern weil ich spürte, dass ich ihre Fürsorge
nicht länger überstrapazieren konnte.”  
 Quelle: Hamed Abdel-Samad “Abschied vom Himmel”, 2010,
               Knaur Taschenbuch, S.219 ff.