Die französische Journalistin Annick Cojean enthüllt Schreckliches in ihrem
Buch, lässt eine der Sex-Sklavinnen des Wüsten-Herrschers erzählen.
BILD.de traf die Autorin zum Interview
8.03.2013 - 13:23 Uhr
Es waren kleine Mädchen, Schulkinder noch, die er zu „Schlampen“ und
„Nutten“, zu Frauen ohne Zukunft machte. Libyens Diktator Muammar
Gaddafi (1942 – 2011) ist tot, doch seine Tyrannei hat tiefe Wunden
hinterlassen.
Die französische Journalistin Annick Cojean (55) erzählt in ihrem Buch „Niemand hört
mein Schreien“ eine grauenhafte Geschichte. Es ist die Lebensbeichte der jungen Soraya
(heute 24, ihr echter Name bleibt geheim), die Gaddafi aus ihrem Leben riss, als sie nur 15
Jahre alt war.
Unter Gaddafis Palast Bab al-Asisija in Tripolis musste sie mit vielen anderen Mädchen in
dunklen, feuchten Kellerräumen hausen. Der Wüsten-Diktator ließ sie sich „servieren“,
wann es ihm passte. Dann vergewaltigte er sie brutal, urinierte auf sie, biss sie, er gab ihr
Pornos „um zu lernen“, Kokain, Alkohol – kurzum: Er zerstörte ihr gesamtes Leben.
BILD.de traf Annick Cojean, Reporterin der französischen Zeitung „Le Monde“, zum
Interview.
BILD.de: Frau Cojean, wie war Ihnen zumute als Sie Sorayas Leidensgeschichte
gehört und aufgeschrieben haben?
Annick Cojean: „Ich war schockiert, ich konnte nicht glauben, was sie mir alles erzählte. Sie
berichtete, wie Gaddafi ihre Schule besuchte, wie sie – ein 15-jähriges Mädchen –
ausgesucht wurde, ihm einen Blumenstrauß zu überreichen. Sie erinnerte sich an fast jedes
Detail, wie er sie mit kaltem Blick musterte und dann ihre Hand drückte. Wie sie später
herausfand, war das das Zeichen für seine Leibgarde: Die hier will ich haben. Ein junges
Mädchen, Sexsklavin eines Diktators, der vom Westen jahrelang hofiert wurde, das muss
man erst einmal begreifen.“
Ich war zwei Wochen in Libyen, kurz nachdem Gaddafi getötet worden war. Für „Le
Monde“ wollte ich die Rolle der Frauen während der Revolte gegen den Diktator skizzieren.
Es war so verwunderlich, dass die Frauen in Ägypten gegen Mubarak demonstrierten und in
Tunesien gegen Ben Ali, aber in Libyen, da sah man sie nicht. Dennoch hatten sie eine
wichtige Funktion, obwohl sie im Verborgenen operierten. Sie versetzten ihren Schmuck,
um den Rebellen neue Waffen zu kaufen. Sie kochten für die Männer, die gegen Gaddafi
aufstanden. Sie haben ihr Leben riskiert wie alle anderen Gaddafi-Gegner auch während der
Revolution. Doch sie mussten nicht nur den Tod fürchten, sondern auch zahllose
Vergewaltigungen. Das war die grausamste Waffe der Diktatoren-Krieger, wie ich
feststellen musste.
BILD.de: Und dann war da Soraya ...
Ja, keine der Frauen wollte frei mit mir sprechen. Die Schande, die Angst vor ihrer Familie.
Dann traf ich Soraya. Eine junge Frau, die darauf brannte ihre Geschichte zu erzählen.
Dieser Mann, den sie da tot im Fernsehen sah, Muammar Gaddafi, war ihr Peiniger für so
viele Jahre, und sie wollte Gerechtigkeit, wollte sagen, dass sie ein Opfer dieses unfassbaren
Verbrechers war. Also schlossen wir einen Pakt: Ich erfahre jedes Detail und schreibe ein
Buch, doch ihre Identität gebe ich nicht preis.
BILD.de: Ihre Geschichte ist so furchtbar, dass man sie gar nicht fassen kann.
Ja, sie war ein Schulmädchen, das für den Diktator brannte. Für sie war er ein Popstar,
dessen Bilder überall zu sehen waren. Dann eines Tages, nachdem er sie bei einem
Schulbesuch ausgewählt hatte, kamen drei Frauen zu ihr nach Hause und holten sie unter
einem Vorwand ab. In einer Stunde wollten sie sie zurückbringen, doch Soraya sollte ihre
Familie nie wieder sehen.
Annick Cojean „Niemand hört
mein Schreien“. Aufbau Verlag,
19,99 Euro.
Die französische Journalistin
Annick Cojean recherchierte
mehrere Monate in Libyen für
ihr Buch, das in Paris bereits
ein Bestseller ist
Foto: Tina Merandon
Auszug aus Cojeans Buch: „Man zog mir einen String-Tanga an – so was hatte ich noch nie
gesehen – ein seidig glänzendes weißes Kleid, das seitlich geschlitzt war und auf der Brust
und im Rücken tief ausgeschnitten. Mein offenes Haar fiel mir bis auf den Po herab. Fathia
schminkte mich, parfümierte mich und fügte noch ein wenig Gloss auf die Lippen hinzu, was
Mama mir nie erlaubt hätte. Maburka prüfte meine ganze Erscheinung mit strengem Blick,
dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich in den Flur. Vor einer Tür blieb sie
stehen, öffnete sie und schob mich hinein. Gaddafi saß nackt auf seinem Bett.
BILD.de: Soraya wurde jahrelang von Gaddafi vergewaltigt, war eines von vielen
Mädchen, dass er in seinen Harem warf. Jetzt ist sie frei. Warum verlässt sie Libyen
nicht?
Sie kann nicht zurück zu ihrer Familie, doch sie sieht auch nicht ein, dass sie ihre Heimat
verlassen soll, weil andere Menschen ihr Leid zugefügt haben. Warum soll sie ins Exil und
die Täter dürfen bleiben? Obwohl sie sich nicht als Protagonistin meines Buches zu erkennen
gibt, fühlt sie sich erleichtert, ihre Geschichte erzählt zu haben. Das Buch wurde ins
Arabische übersetzt, via USB-Stick wird es in Libyen unter den Frauen weitergereicht. Soraya
sucht ihren Weg, eines Tages wird sie ihn finden.
BILD.de: Ist sie froh, dass Gaddafi tot ist?
Sie war erleichtert, doch sie hätte ihn lieber vor einem internationalen Gericht gesehen. Sie
hätte gern gesehen, wie er für alle seine Verbrechen bestraft wird.
BILD.de: War Sex Gaddafis schlimmste Waffe?
Gaddafi benutzte Sex nicht nur zur Befriedigung seiner perversen Bedürfnisse, sondern um
Menschen zu kontrollieren, zu demütigen, unter Druck zu setzten und letztendlich
auszuschalten. Während der Revolution gab er seinen Soldaten Viagra, um möglichst viele
Frauen vergewaltigen zu können. Er selbst benutzte diese Waffe seit Beginn seiner Herrschaft
in Libyen, nicht erst zum Ende hin, als man ihn gemeinhin als verrückt bezeichnen konnte.
Gaddafi regierte mit Sex. Er zwang die Frauen und Töchter von Ministern, Staatschefs und
Geschäftsmännern dazu, mit ihm Sex zu haben. So setzte er alle unter Druck.
BILD.de: Gaddafi reiste mit seinem Harem, besuchte die UN in New York, Berlusconi in
Rom. Wie konnte es sein, dass nie jemand bemerkte, was er den Frauen antat?
Natürlich müssen Politiker, die er traf, bemerkt haben, dass die Amazonen, seine Armee aus
Frauen, die ihn stets umgab, weder kämpfen konnten noch bewaffnet waren. Silvio Berlusconi
übernahm die Idee der „Bunga Bunga“-Partys vermutlich von Gaddafi, Jörg Haider soll
häufiger Gast bei Gaddafi-Festen in Tripolis gewesen sein. Doch ich denke, das, was wirklich
in den Kellern von Bab al-Asisija vor sich ging, wusste nur die wenigsten. Auch
internationale Journalisten wurden von Gaddafi sexuell belästigt und beinahe vergewaltigt.
Wir hätten viel genauer hinsehen und zuhören müssen.
Annick Cojean „Niemand hört mein Schreien“. Aufbau Verlag, 19,99 Euro.
Quelle:  http://www.bild.de/politik/ausland/muammar-gaddafi/so-funktionierte-
              gaddafis-sex-diktatur-autorin-annick-cojean-enthuellt-29392834.bild.html#