Ist Deutschland das Opfer der Euro-Krise?
Wer den deutschen Spitzenpolitikern in der Euro-Krise die fehlende Kom-
munikation einer Vision für das Europa der Zukunft vorwirft, unterschlägt ein
weit größeres Versäumnis: Angela Merkel und ihr Kabinett haben es geradezu
fahrlässig unterlassen, die deutsche Öffentlichkeit an den ökonomischen
Nutzen der Euro-Zone für die Bundesrepublik zu erinnern, der sich sogar in der
Krise zeigt.
Dabei scheint dieser völlig klar. Allein im vergangenen Jahrzehnt hat sich der
deutsche Handelsüberschuss im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung auf einen
Wert von rund 6 Prozent eingependelt, während er in Ländern wie Italien,
Griechenland, Portugal und Spanien negative Werte aufweist.
Natürlich ist unbestritten, dass die strikten heimischen Reformen – oftmals
gegen großen öffentlichen Widerstand durchgesetzt – erheblich zu diesem
Aufschwung beigetragen haben. (...)
Doch die Reformen allein genügen nicht als Erklärungsansatz. Deutschlands
aktuelle Stärke gründet auf strukturellen Vorteilen, was beispielsweise dem
ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder durchaus bewusst war. In einem
Gespräch mit David Marsh offenbarte er im Jahr 2007: „Da sich die deutsche
Wettbewerbsfähigkeit erhöht hat, steht Deutschland nicht schwächer, sondern
stärker da … auf gewisse Weise ist dies logisch und auch unabdingbar, denn
wir sind die stärkste Volkswirtschaft in Europa – und die anderen dürfen nicht
mehr abwerten.“
Auch der deutschen Industrie ist der Segen der Euro-Zone früh klar geworden,
sie gehörte deshalb auch zu den entschiedensten Befürwortern einer Gemein-
schaftswährung: „Daimler konnte nun mit Fiat konkurrieren, ohne sich Sorgen
machen zu müssen, dass eine schwache Lira den Italienern einen Vorteil
innerhalb Europas oder im Rest der Welt verschaffen würde.
Der Vorteil für deutsche Firmen war enorm, schließlich machen Exporte in die
Euro-Zone rund die Hälfte aller ihrer Exporte aus, beschrieb das US-Magazin
Time im Sommer 2013 die Vorteile des neuen Währugsarrangements für die
starke deutsche Exportindustrie. Zugleich sorgte dieser Turbo für die deutsche
Wirtschaft aber dafür, dass die deutschen Überschüsse nach Anlagemöglich-
keiten suchten – und so die Kreditblase in den Peripheriestaaten erst möglich
machten.
Der in Amerika lehrende Ökonom Jörg Bibow kommt zu folgendem Fazit:
Niedrige deutsche Löhne waren das zentrale Problem der Euro-Krise, nicht die
Ausgabenlust der südlichen EU-Staaten. Deutschland wurde schlicht so wett-
bewerbsfähig, dass die Kluft in Europa unüberwindlich wurde. Den Überschuss
musste Deutschland anlegen – und suchte sich dafür die hohen Rendite
versprechenden Märkte der gegenwärtigen Krisennationen.  (…)
Doch anders als in der aktuellen Diskussion gerne dargestellt, waren keines-
wegs besorgte Warnungen aus Deutschland zu vernehmen, als deutsche
Banken sich einen Wettlauf um die höchsten Verbindlichkeiten lieferten.
Zwischen 2003 und 2007, in gerade einmal vier Jahren, importierte das irische
Bankensystem mehr als die Hälfte seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) in
Verbindlichkeiten, schreibt der BBC-Journalist Gavin Hewitt in seinem Buch
“The lost Continent”. Unter den wichtigsten Lieferanten: deutsche Banken, die
für mehr als 200 Milliarden Euro an Krediten verantwortlich zeichneten.
Geert Mak findet für dieses Vorgehen harte Worte: “Die deutschen Banker, die
zu Hause den finanziellen Moralapostel geben, führten sich auf den inter-
nationalen Märkten auf wie ein enthemmter Spießbürger in einem Kasino: 21
Milliarden verzockten sie bei isländischen Luft-Banken, 47 Milliarden bei
irischen Banken und deren Immobilienblase, 60 Milliarden mit verseuchten US-
Hypotheken und 65 Milliarden in Griechenland, obwohl jeder wusste, dass dort
nicht einmal das Steuersystem funktioniert.
Ähnlich wie in Irland lief es in Griechenland oder in Spanien. In Athen sollen
nach Schätzungen von Marktkennern zeitweise mehr Geländewagen deutscher
Herstellung unterwegs gewesen sein als in jeder anderen europäischen
Hauptstadt, und in Spanien entstanden im Jahr 2006 mehr neue Apartment-
häuser als in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen,
oftmals befeuert durch deutsche Kredite und verwirklicht mit deutschem
Baugut. Die Nachfrage nach Luxusprodukten made in Germany stieg derart an,
dass der amerikanische Ökonom Adam Posen feststellte: “Es war, als ob
Deutschland ein Betrugssystem für sich selbst betrieben hätte.”
Deutsche und französische Banken, das war auch Kanzlerin Merkel bei der
Bestandsaufnahme rasch klar, hatten in den Jahren vor dem Platzen der
Kreditblase beinahe eine Billion Euro an Griechenland, Spanien, Italien und
Portugal verliehen. Dass ein großer Teil des Geldes die schwierigen politi-
schen Strukturen dieser Staaten eher bewahrte, statt notwendige Reformen
voranzutreiben, kann deutschen Politikern nicht entgangen sein.
Schließlich dränge Angela Merkel noch zu einem Zeitpunkt, als Griechenland
bereits vor dem Staatsbankrott stand, darauf, dass das Land seine Verpflich-
tungen gegenüber deutschen Rüstungsfirmen auf jeden Fall begleichen sollte.
“Griechenland hat keine amerikanischen Panzer gekauft, sondern deutsche
und französische U-Boote und Fregatten. Solange es sich in Schulden gestürzt
hat, um unseren deutschen und französischen Unternehmen Aufträge zu
geben, hatten wir keine Probleme damit. Als die Euro-Zone Griechenland im
April 2010 Geld geliehen hatte, haben Angela Merkel und Nicolas Sarkozy der
Regierung Papandreou zu verstehen gegeben, dass die Verträge mit deutschen
und französischen Rüstungskonzernen zu respektieren seien”, notieren Guy
Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit in ihrer Analyse der Euro-Krise.
Im Prinzip lieh der Steuerzahler also Geld an die Griechen, um deutsche
Rüstungskonzerne zu befriedigen - beziehungsweise die deutschen Banken. 
Wie der SPIEGEL ausrechnete, genehmigt die EU-Kommission seit 2008 fünf
Billionen Euro an Hilfen für den Finanzsektor, das entspricht 40 Prozent der
europäischen Wirtschaftsleistung.
Deutschland stellte 646 Milliarden Euro für seine Kredithäuser bereit, private
Gläubiger der Banken mussten hingegen kaum Geld zuschießen. Nach dem
Zocker-Boom privater Anleger wurden die Aufräumarbeiten also auf den Staat
abgewälzt.
Irland, ein Land mit gerade einmal 4,5 Millionen Einwohnern, häufte Staats-
schulden in Höhe von 106 Milliarden Euro an, die zum großen Teil an aus-
ländische Banken flossen und nicht etwa an die eigenen Bürger. Die Gewinne
waren national angefallen, die Verluste wurden nun sozialisiert. 
Kurz gesagt: Ähnlich wie einst die US-Banken an der Wall Street in den Jahren
vor dem Ausbruch der Weltfinanzkrise zockten deutsche Banken mit hohem
Einsatz und Gewinn.
Als das euopäische System, das unter solchen Ungleichheiten dauerhaft nicht
aufrechtzuerhalten war, zusammenbrach, sorgten auch sie dafür, dass ein
beträchtlicher Teil der Verluste vom Steuerzahler ersetzt oder zumindest abge-
sichert wurde.
Doch damit nicht genug: Die Deutschen profitierten sogar von der Krise, weil
das Land sich nun besonders günstig Geld leihen konnte und weniger für den
Schuldendienst ausgeben musste, wie Geert Mark vorrechnet: “Der deutschen
Wirtschaft geht es heute um etwa 25 Prozent besser als vor fünf Jahren, und
das nicht nur, weil die Deutschen so brav und fleißig sind, sondern vor allem
aufgrund der Krise in anderen europäischen Ländern. Das Land hat, nach
Schätzungen des Instituts für Weltwirtschaft, an der Krise 100 Milliarden Euro
verdient.
 
Quelle: George Soros/Gregor Peter Schmitz: “Wetten auf Europa”,
             Wilhelm Goldmann Verlag, Juli 2015, S.74ff.