Demokratiedefizit der Europäischen Union
Mit “Demokratiedefizit der Europäischen Union” ist gemeint, dass die
Europäische Union in ihrem politischen Wirken nicht ausreichend
demokratisch legitimiert sei.
Unter den Kritikern verweist ein Teil auf das Fehlen eines europäischen
Staatsvolks und sieht darin ein „strukturelles Demokratiedefizit“; andere
beziehen sich auf Mängel des politischen Systems der Europäischen Union
und monieren ein „institutionelles Demokratiedefizit“.
Zugleich sind Entwicklung und Ausbau der europäischen Integration seit den
Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch von einer zunehmenden
Verschiebung der Gewichte innerhalb des EU-Institutionengefüges gekenn-
zeichnet, die mit einer zunehmenden Stärkung demokratiegemäßer Kompo-
nenten einherging.
Dies zeigt sich insbesondere an der veränderten Rolle des Europäischen
Parlaments, das von einer nicht direkt gewählten, lediglich beratenden Insti-
tution stufenweise zu einem mit dem Ministerrat in nahezu allen Bereichen
gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan geworden ist.
Das schwer überschaubare EU-Vertragsgeflecht wirkt intransparent; die
Vielzahl an Regelungen und Normvorschriften auch sehr spezieller Art, die von
den EU-Organen für den Binnenmarkt erlassen werden, ruft Kritik an der
„Brüsseler Bürokratie“ hervor und nährt auf einzelstaatlicher und regionaler
Ebene Vorbehalte und Widerstände gegen eine „Eurokratie“.
In der Betonung des Subsidiaritätsprinzips, in der Einführung einer
Unionsbürgerschaft, in der Grundrechte-Charta und in der Stärkung von
Partizipationsmöglichkeiten der Unionsbürger finden sich aber auch
gegenläufige Impulse.
Strukturelles Demokratiedefizit
Die Europäische Union leidet unter einem gravierenden (gesamt)demo-
kratischen Defizit vor allem deshalb, weil ihre Organe weitreichende Ent-
scheidungen treffen, die für die Unionsbürger (unmittelbar oder mittelbar)
verbindlich sind, obwohl diese Organe nicht nach dem demokratischen
Elementargrundsatz "one man one vote" bestellt sind.
Ohne einheitliches Staatsvolk, so die Kritiker des strukturellen Demokratie-
defizits, fehle es der EU ohnehin an elementarer demokratischer Legitimation.
Die Vielfalt der Sprachen und das Fehlen „europäischer Medien“ lasse keinen
gesamteuropäischen politisch-öffentlichen Diskurs zu. Die bestehenden
Medien seien nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich hauptsächlich auf
nationale Belange ausgerichtet.
Ohne eine europaweite Öffentlichkeit könne aber auch keine gemeinsame
Identität eines „europäisches Staatsvolks“ entstehen. Bislang gebe es nur
vereinzelte Ansätze, diesem Problem zu begegnen, etwa durch den deutsch-
französischen Sender ARTE oder euronews. Auch die englische Sprache als
Lingua Franca könne das Problem der Sprachenvielfalt nicht überwinden, da
vielen Menschen das entsprechende Fachvokabular fehle, um politische
Auseinandersetzungen angemessen zu verfolgen oder führen zu können.
Kritiker des strukturellen Demokratiedefizits sind in den Reihen der soge-
nannten Intergouvernementalisten stark vertreten, die die EU auf eine reine
zwischenstaatliche Zusammenarbeit beschränken wollen und weitere Kom-
petenzen für die supranationalen Organe (etwa Europäische Kommission und
Europäisches Parlament) ablehnen.
(Ein wichtiger Vertreter dieser Kritik ist z. B. Prof. Karl Albrecht Schachtschneider, der
unter anderem 1993 Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht gegen das
Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht war. Im sogenannten Maastricht-
Urteil befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage, ob die Teilnahme
der Bundesrepublik an der Europäi-schen Union mit dem Demokratieprinzip des
Grundgesetzes vereinbar ist und ging dabei auf die Problematik des fehlenden
europäischen Staatsvolks ein. Das Urteil führt für die EU die Bezeichnung „Staaten-
verbund“ ein und fordert als Voraussetzung für eine Mitgliedschaft Deutschlands,
dass „eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb
eines Staatenverbundes gesichert ist“. )
Institutionelles Demokratiedefizit
Auch der Einfluss und das Zusammenspiel der EU-Organe ist Gegenstand der
Kritik. Nach dieser Auffassung liege ein Demokratiedefizit darin, dass die Inter-
essenvertretung und politische Partizipation der Unionsbürger im bestehenden
Institutionengefüge nicht hinreichend gewährleistet sei.
In dem 1988 verabschiedeten Toussaint-Bericht definierte das Europäische
Parlament das „Demokratiedefizit in der Europäischen Gemeinschaft“ als
„Kombination zweier Phänomene:
(i) die Übertragung von Vollmachten von den Mitgliedstaaten auf die
Europäischen Gemeinschaften;
(ii) die Ausübung dieser Vollmachten auf Gemeinschaftsebene durch andere
Institutionen als das Europäische Parlament, auch wenn vor der Übertragung
die nationalen Parlamente die Vollmacht hatten, in den betroffenen Bereichen
Gesetze zu verabschieden.“
– Toussaint-Bericht 1988
Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem der Ministerrat der EU. Dieser ist
das wichtigste Gesetzgebungsorgan der EU, besteht aber aus Mitgliedern der
jeweiligen nationalen Regierungen. Diese Form des Exekutivföderalismus führt
dazu, dass im Rat die Gewaltenteilung zwischen (supranationaler) Legislative
und (nationaler) Exekutive nicht stattfindet. Dadurch war es möglich, dass
nationale Regierungen bei entsprechender Mehrheitsbildung im Ministerrat in
die Lage versetzt wurden, über den Umweg der EU ohne parlamentarische
Kontrolle Gesetze einzuführen. 
Durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens im Vertrag von Maast-
richt wurde das Europäische Parlament jedoch dem Rat in der Legislative
gleichgestellt, sodass ein solches „Spiel über Bande“ zur Rechtsetzung ganz
ohne parlamentarische Beteiligung in den meisten Politikfeldern nicht mehr
möglich ist. Dennoch wird die Kritik an einem institutionellen Demokratiedefizit
aus verschiedenen anderen Gründen weiter aufrechterhalten.
Unter den Kritikern des institutionellen Demokratiedefizits lassen sich mit
konträrer Zielsetzung Intergouvernementalisten und europäische Föderalisten 
unterscheiden. Während Erstere sich gegen die Übertragung weiterer
Kompetenzen an die EU aussprechen und stattdessen eine Stärkung der
nationalen Parlamente fordern, setzen sich die Föderalisten insbesondere für
die Stärkung des Europäischen Parlaments ein. Etwas vereinfacht fordern die
Intergouvernementalisten eher „weniger“, die Föderalisten eher „mehr
Europa“.
Intergouvernementalistische Kritik
Intergouvernementalisten, die mit dem institutionellen Demokratiedefizit
argumentieren, werfen der EU meist vor, sich Kompetenzen in Politikbereichen
anzueignen, die nach dem Subsidiaritätsprinzip sinnvoller auf national-
staatlicher Ebene geregelt werden sollten.
Dabei spielen insbesondere folgende Kritikpunkte eine Rolle:
-
eine zu weitreichende Regulierung durch gut gemeinte Versuche
und/oder ein Streben nach Macht. Als Beispiel dient hier etwa die am 20.
März 2000 erlassene Richtlinie 2000/9/EG über Seilbahnen für den
Personenverkehr, nach der auch flachländische Länder wie Berlin oder
Mecklenburg-Vorpommern Gesetze für Seilbahnen erlassen müssen
(siehe etwa das Landesseilbahngesetz (Mecklenburg-Vorpommern)).
-
das oben dargestellte „Spiel über Bande“, durch das den Kritikern
zufolge den nationalen Parlamenten eine effektive Kontrolle ihrer
eigenen Regierung unmöglich gemacht wird.
-
sogenannte Paketbeschlüsse im Ministerrat, bei denen sachfremde
Themen zusammengefasst und gemeinsam beschlossen werden.
Hierdurch kommen aus Sicht der intergouvernementalistischen Kritiker
viele Beschlüsse zustande, die sonst keine Mehrheit gefunden hätten.
Auch dies trage zur Überregulierung bei.
-
die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Dieser ist
vertraglich der „Verwirklichung einer immer engeren Union“ verpflichtet.
Den Kritikern zufolge neige er daher in seinen Urteilen dazu, die EU-Ver-
träge zentralistisch zu interpretieren und der EU immer mehr Zuständig-
keiten zuzusprechen.
      Als Lösung dieser Demokratie- bzw. Subsidiaritätsprobleme wird von
intergouvernementalistischer Seite vorgeschlagen, den Rat seiner
Funktion als „Subsidiaritätswächter“ zu entheben und statt seiner vier
neue Subsidiaritätswächter zu errichten. Diese wären:
1.
Ein Kompetenzkatalog, der den Umfang der EU-Zuständigkeiten festlegt.
2.
Ein Kompetenzgerichtshof, der über Maßnahmen der Kommission, des
Parlaments und auch über die Urteile des Europäischen Gerichtshofes
entscheidet. Wichtig wäre dabei, dass die nationalen Parlamente
klagebefugt wären.
3.
Ein Rückholungsrecht, mit dem es den Mitgliedstaaten über den Rat
möglich wäre, bestimmte Politikbereiche wieder der nationalen
Verantwortung zu übertragen. (Bereits jetzt wäre es den Mitgliedstaaten
möglich, Kompetenzen auf die nationale Ebene zurückzuholen,
allerdings nur durch eine – relativ aufwendige – Änderung des EU-
Vertrags.)
4.
Die Anwendung des Diskontinuitätsprinzips, nach dem Gesetzgebungs-
verfahren nach Ablauf einer Legislaturperiode verfallen würden.
Föderalistische Kritik
Die Europäische Union leidet unter einem gravierenden (gesamt)demo-
kratischen Defizit, weil ihre Organe im weiten Umfang Entscheidungen treffen,
die für alle Unionsbürger (unmittelbar oder mittelbar) verbindlich sind, diese
Organe aber nicht nach dem elementaren Demokratieprinzip "one man one
vote" bestellt werden.
Die europäischen Föderalisten, die in der langfristigen Perspektive einen
europäischen Bundesstaat anstreben, fordern vor allem die konsequente
Demokratisierung des europäischen Entscheidungs- und Gesetzgebungs-
prozesses.
Kritisiert wird, dass das Europäische Parlament noch immer nicht in allen
Politikbereichen volles Mitwirkungsrecht hat. Auch fehlt ihm in der Gesetz-
gebung das Initiativrecht, das allein bei der Kommission liegt, die aber auch
nicht vom Parlament zu wählen, sondern lediglich zu bestätigen (oder abzu-
lehnen) ist. Das Europaparlament hat daher nur indirekt Einfluss auf die
Tätigkeit der Kommission.
Das Parlament wird nach dem Prinzip der fallenden Proportionalität gebildet –
ein häufig genannter Kritikpunkt.
Teilweise umstritten ist auch die Sitzverteilung im Europäischen Parlament, wo
jedem Mitgliedstaat ein gewisses Kontingent an Sitzen zusteht. Dabei stellen
gemäß dem Prinzip der „fallenden Proportionalität“ kleine, bevölkerungsarme
Ländern wie Malta anteilsmäßig wesentlich mehr Abgeordnete als bevölker-
ungsreiche Länder wie Deutschland. Ein Abgeordneter aus Malta vertrat bis
2009 etwa 76.000 Europäer, während ein deutscher Abgeordneter 826.000 EU-
Bürger repräsentierte. Dieser Disproportionalitätsfaktor wird allgemein als
Bruch des Gleichheitsprinzips und damit eines der vier Grundprinzipien einer
demokratischen Wahl (allgemein, frei, gleich, geheim) angesehen.
Am EU-Gesetzgebungsverfahren kritisiert wird zudem eine mangelnde Zu--
rechenbarkeit der Entscheidungen. Es gebe eine Vielzahl von Akteuren, die am
Normsetzungsprozess beteiligt seien, gleichzeitig aber kein Entscheidungs-
zentrum. Dies führe zu Verantwortungsdiffusion beziehungsweise zu einem
System organisierter Verantwortungslosigkeit. Voraussetzung für demokra-
tische Legitimation sei aber, dass der gewählte Repräsentant (durch Abwahl
oder Abberufung) zur Verantwortung gezogen werden könne.
Als Lösung des Demokratiedefizits wäre es aus föderalistischer Sicht vor allem
notwendig, das Europäische Parlament zu einem vollwertigen Parlament
auszubauen. Dies könnte beispielsweise im Rahmen der Errichtung eines Zwei-
Kammer-Systems geschehen, in dem der Rat als Vertretung nationaler Inter-
essen fungieren würde, das Parlament allerdings in sämtlichen Bereichen der
Gesetzgebung ebenbürtig wäre – etwa nach dem Vorbild des Verhältnisses
zwischen Bundestag und Bundesrat in Deutschland.
Weitergehende Forderungen wären die Wahl der Europäischen Kommission
durch das Parlament sowie die Wahl des Parlaments nicht nach nationalen
Sitzkontingenten, sondern etwa mit europaweiten Parteilisten.
Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon
Der Vertrag von Lissabon folgt im Wesentlichen der seit Einführung der Direkt-
wahl des Parlaments 1979 und des Mitentscheidungsverfahrens durch die EEA
1987 erkennbaren Tendenz, sowohl die Kompetenzen der EU als auch die
demokratischen Elemente innerhalb der EU schrittweise zu stärken.
Während föderalistische Kritiker daher einige ihrer Forderungen erfüllt sehen,
befürchten intergouvernementalistische Kritiker eine Verfestigung der be-
stehenden Defizite.
Diese Befürchtungen werden auch als einer der Gründe für das Scheitern des
EU-Verfassungsvertrags 2005 angesehen. Mit der europäischen Bürgeriniti-
ative führte der Lissabon-Vertrag erstmals ein Instrument direkter Demokratie
in die Europäische Union ein.
Debatte
Seit Einführung des Lissabon-Vertrages werden Vorschläge zur institutionellen
Fortentwicklungen vermieden. 2009 forderte der deutsche Bundesfinanz-
minister Wolfgang Schäuble eine Demokratisierung mit Hilfe einer Direktwahl
des Präsidenten des Europäischen Rates durch die Unionsbürger, die er im
Zuge der Eurokrise 2011 wiederholte.
Die EU betreibt mit EUR-Lex eine Datenbank (Rechtsinformationssystem), die
einen Zugang zu den Rechtsvorschriften der Europäischen Union bietet. Es
können insbesondere das Amtsblatt der Europäischen Union sowie die
Verträge, die Rechtsetzungsakte, die Rechtsprechung und die vorbereitenden
Rechtsakte der Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen
eingesehen werden.
Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie (Stand 26.5.2015)
             dort gibt es weitere Quellenangaben