Demonstrationen in Russland
Der deutsche Journalist Erik Albrecht, der seit 2006 in Moskau lebt, schreibt dazu
folgendes:
“Andererseits kann die Bevölkerung in Russland sehr wohl für ihre Anliegen kämpfen.   
Wie in der Kleinstadt Pikaljowo während der Krise gehen regelmäßig im ganzen Land
Menschen auf die Straße, um für ihre Arbeitsplätze oder für Lohnerhöhungen zu demon-
strieren. Meist bleiben die Proteste allerdings lokal begrenzt. Fast alle stellen wirtschaft-
liche und soziale Forderungen, keine politischen. Doch auch überregional ist die russische
Gesellschaft durchaus in der Lage, der Staatsmacht Zugeständnisse abzuringen.
Zum Beispiel im Jahr 2005: Damals entschied der Kreml, dass Rentner und Vetereanen
nicht mehr kostenlos den Nahverkehr benutzen oder gratis Medikamente erhalten sollten.
Statt des von der Sowjetunion geerbten Systems der Vergünstigungen sollte das Geld für
Leistungen auf die monatliche Rente aufgeschlagen werden. Doch in vielen Regionen
reichten die Zusatzzahlungen nicht einmal, um eine Monatskarte für den Bus zu kaufen –
von Medikameten ganz zu schweigen. Im ganzen Land gingen Rentner auf die Straße. Die
Regierung besserte das Gesetz in wichtigen Punkten nach.
Besonders gut organisiert sind die russischen Autofahrer. Sie brachten mit landesweiten
Protesten ein Gesetz zu Fall, das Autos mit Rechtssteuerung in Russland verbieten sollte.
Vor allem in Sibirien, wo ein Großteil der neueren Gebrauchtwagen japanischer Herkunft
ist und damit das Lenkrad auf der rechten Seite hat, war der Protest groß.
Und auch sonst ist die russische Gesellschaft längst nicht so apathisch, wie sie manchmal
erscheint. Als bei den Waldbränden im Somme 2010 die staatlichen Strukturen völlig
versagten, gründeten sich zahllose Initiativen, um Hilfsgüter für die Opfer des Feuers zu
sammeln. Allen war klar, dass der Staat im Angesicht der Katastrophe versagt hatte. Auch
über die Gründe des Versagens wie mangelnder politischer Wettbewerb, Korruption und
schlechte Gesetze herrschte weitgehend Einigkeit. Doch nach den Bränden gründete
keiner der Aktivisten eine Bewegung oder Partei, um Veränderungen herbeizuführen. (….)
Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen, die dort arbeiten, wo
der Staat ihrer Meinung nach zu wenig Interesse zeigt: Seien es die Soldatenmütter,
Selbsthilfegruppen von HIV-Positiven, Bürgerrechtler, Umweltschützer, Flüchtlingshilfen,
Behindertenverbände oder Denkmalschützer, um nur einige zu nennen.
Die Zivilgesellschaft entwickelt sich, wenn auch sehr langsam, konstatiert auch Lipman.
Gleichzeitig bleibt sie skeptisch: „Mir scheint, dass die gesellschaftliche Energie nicht stark
genug ist, um politische Veränderungen anzustoßen.“
Wahrscheinlicher als politischer Wechsel von unten ist für sie ein Auseinanderbrechen der
herrschenden Klasse. Dann könnten sich Teile der Zivilgesellschaft hinter einem
Herausforderer sammlen.“ Albrecht, S. 105
Quelle: Erik Albrecht, „Putin und sein Präsident – Russland unter Medwedew“,
               Orell Füssli Verlag, 2011, S.105