Demokratie und Verbesserungen in Russland unter Putin
Der deutsche Journalist Erik Albrecht, der seit 2006 in Moskau lebt, beschreibt in seinem
Buch “Putin und sein Präsident - Russland unter Medwedew” im Jahr 2011 seine
Eindrücke von Russland folgendermaßen:  
“Auch wenn die russische Staatsmacht weiterhin viele Bürgerrechte wie das Recht auf
Versammlungsfreiheit oder auf politische Partizipation einschränkt, ist die russische
Gesellschaft bei Weitem nicht mehr so abgeschottet wie zu Sowjetzeiten. Das Leben in
Russlands Städten unterscheidet sich längst nicht so stark von dem in Westeuropa, wie oft
angenommen wird. Die wachsende russische Mittelschicht kauft in großen Einkaufszentren
bei den gleichen Markenshops ein wie der Westen (von H&M bis Armani), sieht die
gleichen internationalen Filme im Kino, isst beim Italiener eine ähnlich gute Pizza, tanzt zur
gleichen internationalen Musik, liest die gleichen internationalen Autoren in Übersetzung
und fährt in die gleichen Urlaubsorte in der Türkei und Ägypten wie Westeuropäer auch.
Viele Bürger stört die Einschränkung politischer Freiheiten wie die des Demonstrations-
oder des Wahlrechts. Und doch ist die Wahrnehmung dieser Rechte für die meisten
ebenso ein nur untergeordneter Teil ihres Alltags wie für viele Menschen im Westen auch.
Ihnen sind Stabilität und relativer wirtschaftlicher Wohlstand wichtiger als politisches
Mitspracherecht. Der Putinsche Gesellschaftsvertrag funktioniert auch noch nach der
Krise. Die Demokratie hat dabei unter dem Großteil der Bevölkerung ein denkbar
schlechtes Image.
„Die Menschen haben nie die Erfahrung gemacht, dass politische Mitbestimmung ihnen
genutzt hat.“, erklärt Lipman. „Es gibt keinen Fall, wo dies ihr Leben verbessert hat. Das ist
schlicht und einfach die Wahrheit.“   
Als im August 1991 eine Gruppe ewig Gestriger aus der Führung gegen Gorbatschow
putschte, verteidigten die Menschen ihre neu gewonnene Freiheit  am Weißen Haus,
damals Sitz des Obersten Sowjets der Russischen Teilrepublik der Sowjetunion. Die
Putschisten mussten am dritten Tag aufgeben. Doch auf den Sieg der Demonstranten
folgte der Zusammenbruch des Landes: Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die
Wirtschaft stand still und während die meisten Menschen in tiefe Armut fielen, mussten sie
mit ansehen, wie einige wenige  Oligarchen sagenhaft reich wurden. Gründe für den
Absturz lassen sich viele finden – von dem niedrigen Ölpreis bis zur Notwendigkeit, das
Land aus dem erstarrten Sowjetsystem in die Marktwirtschaft zu führen.
Trotzdem verbinden viele Russen bis heute die Wirren der 1990er Jahre unter Präsident
Jelzin mit dem Begriff Demokratie. „Viele Leute denken: „Wir Idioten haben geglaubt, dass
wir einfach nur ein demokratisches Parlament wählen und dann wird alles bei uns wie in
Frankreich oder wie in England.“, fass Maria Lipman die Einstellung vieler Menschen zhu
den 1990er Jahren zusammen. „Aber nichts ist wie im Westen geworden. Alles wurde
ganz furchtbar. Das ist ein starkes Trauma.“
Zumal auch in jener Zeit der Einfluss der Menschen auf die Politik begrenzt war. Zwar
wurde Boris Jelzin im Westen als „Demokrat“ gefeiert, doch im Kampf um die Macht im
jungen Staat ließ er am 3. Oktober 1993 das Parlament im Weißens Haus beschießen, das
die Menschen drei Jahre zuvor gewählt hatten. Der Oberste Sowjet hatte Jelzins Reformen
blockiert. Der Präsident verfügte daraufhin dessen verfassungswidrige Auflösung.
Am 3.Oktober 1993 ließ Jelzin Panzer die Kraftprobe entscheiden. 1996 gelang ihm seine
Wiederwahl nur dank massiver Manipulationen der Medien und wohl auch dank Wahlfäl-
schungen – nur wenige Monate vor der Abstimmung lagen Jelzins Zustimmungswerte im
einstelligen Prozentbereich. 
Mit Demokratie hatte all das wenig zu tun. Gerade deshalb haben in dieser Zeit viele
liberale Reformer ihr Vertrauen bei den Menschen gründlich verspielt.
Seitdem Wladimir Putin in Russland an der Macht ist, hat sich das Leben vieler Menschen
dagegen spürbar verbessert. Die russische Mittelschicht ist kräftig gewachsen. In Putins
hohen Zustimmungsraten von über 70 Prozent spiegelt sich auch der Dank für den
relativen Wohlstand und die Stabilität wider, die er dem Land nach den oft chaotischen
Jelzin-Jahren gebracht hat. Doch gleichzeitig sehen die Menschen sehr wohl, was im Land
falsch läuft: Über 60 Prozent geben in Umfragen an, dass Korruption in den
Sicherheitsorganen ein Systemproblem ist. Den Beliebtheitswerten Putins und
Medwedews, die die Macht hätten, dieses System zu ändern, kann das nichts anhaben.
Nur wenige sind bereit, mit dem Systems Putin zu brechen.
„Die Russen sind gegen liberale und demokratische Reformen, nicht weil sie mit dem
Status quo (…) zufrieden sind, sondern weil jeder breit angelegte Wandel das Risiko birgt,
das extrem wackelige Fundament der bisherigen Errungenschaften hinwegzuspülen“,
schreibt der US-Soziologe Sam Greene. „Deshalb nehmen sie das System mit all seinen
Fehlern so an, wie es ist. Obwohl sie davon ausgehen, dass die gesamte herrschende
Klasse mit Ausnahme von ein, zwei Leuten Diebe sind, Leute, die nur an sich und nicht an
uns denken“, fügt Maria Lipman hinzu.
Hier liegt ein Grund dafür, dass die Opposition die Menschen so schwer für ihre Ideen
mobilisieren kann. Für den Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow liegt ein weiteres
Problem in den gewaltigen Unterschieden innerhalb des Landes. Die Menschen in
Großstäden wie Moskau und St.Petersburg, in Sibirien oder im Nordkaukasus haben völlig
unterschiedliche Lebenserfahrungen. Und auch innerhalb der einzelnen Regionen sind die
Unterschiede zwischen Land und Stadt enorm.
„Wir haben eine schwierige Gesellschaft“, sagt Wladimir Ryschkow. „Verschiedene Teile
unseres Volkes haben unterschiedliche Meinungen zu dem, was passiert.“ Er schätzt, dass
15 bis 20 Millionen Menschen und damit etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung kritisch
auf das System Putin schauen. Dazu zählen vor allem junge Russen mit guter Ausbildung.
Sie informieren sich in erster Linie über das Internet. Viele reisen regelmäßig in den
Westen, verbringen dort ihren Urlaub oder arbeiten. „Ihnen ist klar, dass das Land unter
Putin keine Zukunft hat“, sagt Ryschkow. „Diese Leute werden meiner Meinung nach
langsam ein wenig aktiver.“ 
Quelle: Erik Albrecht, „Putin und sein Präsident – Russland unter Medwedew“,
               Orell Füssli Verlag, 2011, S.101 ff.