Andernach - die essbare Stadt
 Statt Blumen wachsen in Andernach Gemüse in den Beeten an der alten Schlossmauer. ]
So ganz neu ist die Idee nicht: Gemüseanbau im öffentlichen Raum, Kohl und
Kartoffeln statt Blumen. Nach Kriegsende waren Lebensmittel knapp und in vielen
Städten sollten diese Maßnahmen die Not der Menschen lindern. Doch das ist lange her.
Wer heute in der Stadt lebt, für den sind selbst angebauter Salat, würziges Basilikum
oder aromatische Tomaten oft echter Luxus. Nicht so in einer idyllischen Stadt am
Rhein: Andernach.
Pflücken erlaubt, statt Betreten verboten
Jeder darf sich beim Kohlrabi bedienen.
Vor der alten Schlossmauer mitten im Stadtzentrum erntet Erika Kändler, was bei ihr
zu Hause auf den Tisch kommt: Salat, Schnittlauch und Kohlrabi; alles frisch und in
Bio-Qualität. Dabei gehört dieser Garten gar nicht ihr, sondern der Stadt - und in
Andernach heißt das, er gehört allen Bürgern. "Das finde ich sagenhaft!", freut sich die
Andernacherin. "Wo früher nur Efeu wuchs, da wächst jetzt was Essbares. Und vor
allen Dingen: Wir dürfen das ernten. Da steht kein Schild 'Betreten der Rasenfläche
verboten', sondern hier ist Pflücken erlaubt!"
Andernach, die essbare Stadt, ist Realität geworden. An diesem Konzept planen und
arbeiten seit mehr als zwei Jahren Gartenbauingenieurin Heike Boomgaarden und Lutz
Kosack, Geo-Ökologe der Stadt Andernach - und das im wahrsten Sinne mit
wachsender Begeisterung.
Begonnen hat alles 2010
Beim Anlegen der Beete halfen viele mit.
Im Gegensatz zu heute entsprachen die öffentlichen Grünflächen in Andernach bis zum
Jahr 2010 dem gängigen Standard. Zum typischen Bild gehörten gepflegte Rasenflächen
und die klassischen Wechselbeete, die mehrmals im Jahr neu bepflanzt werden. 2010
sollten den öffentlichen Grünflächen neue Funktionen zukommen. Sie sollten zu einem
optischen und kulinarischen Genuss werden, zudem kostenlos für die Anwohner und
bezahlbar für die Stadt. Mehr als 50.000 Euro waren nicht drin, um Andernach neu
erblühen zu lassen. Ein ehrgeiziges Projekt. Heike Boomgaarden erinnert sich: "Da war
die Grundidee, eine Stadt aufzuwerten, eine Stadt wieder zum Lebensmittelpunkt zu
machen - das heißt, Lebensmittel in die Stadt zu bringen, Gemüsepflanzen, Obstbäume,
Sträucher, die Obst tragen. Auch mit dem Gedanken, es schön zu machen, ästhetisch zu
gestalten - und deswegen sind wir erst in die Ecken gegangen, die vielleicht nicht ganz so
schön waren und die haben wir aufgewertet. Und als sie dann so richtig aufgeblüht sind,
haben wir das ganze Projekt ausgeweitet und durch die ganze Stadt gezogen."
Um die Gärtnerarbeiten kümmerten sich von Beginn an nicht nur städtische Arbeiter,
sondern auch Ein-Euro-Jobber, Langzeitarbeitslose und Freiwillige. Wer mitmacht, tut
es gerne, denn die essbare Stadt kommt bei den Anwohnern gut an und macht Besucher
neugierig. Als im ersten Jahr das Gemüse heranreifte, war das Zögern noch groß. Ist
Pflücken wirklich erlaubt? Nach anfänglichem Zögern gehört mittlerweile diese
"Selbstbedienung" auf den öffentlichen Flächen zum Leben der Bürger einfach dazu.
Rückkehr der Artenvielfalt
2012 ist das Jahr der Zwiebelgewächse in Andernach. Artenvielfalt - Biodiversität - ist
erklärtes Ziel in Andernach. Das gilt vor allem für die Nutzpflanzen. Die städtischen
Grünflächen sollen mit einem Sortenreichtum überzeugen, der den allermeisten von uns
heutzutage völlig fremd ist. So wurden 2010 vor dem Schloss rund 300 verschiedene
Tomatensorten angebaut. Ein Jahr später waren es 101 verschiedene Bohnensorten.
2012 ist das Jahr der Zwiebelgewächse. So kehren in Andernach längst vergessene
Sorten wieder zurück, zu deren Erhalt jeder etwas beitragen kann. "Wir fordern die
Bürger ja auf, bitte bedient euch, nehmt euch die Früchte und nehmt euch die Samen.
Nehmt die Samen und pflanzt sie in euren Garten und vervielfältigt damit diese seltenen
Sorten", erklärt Lutz Kosack die Idee. "Das ist das, was wir als Agro-Biodiversität, als
landwirtschaftliche Vielfalt, bezeichnen. Und wir versuchen das in die Stadt
reinzubringen, damit in der Stadt selber das Samenmaterial zusammen kommt und
auch wieder vervielfältigt und verbreitet wird."
Viele Gemüsesorten kennt die 80-jährige Erika Kändler noch aus ihrem Schrebergarten
von früher. Doch mitten in Andernach wachsen auch für sie Überraschungen,
beispielsweise buntstieliger Mangold. "Das war schöner als jede Rosenstaude. Also das
genieße ich jetzt so richtig, dass man hier so vieles kennenlernen kann", freut sich die
Andernacherin.
Gutes muss nicht teuer sein
Kornblumen wachsen hier ebenso wie Adonisröschen.
Artenvielfalt und Blütenpracht ist nicht nur beim Gemüse gefragt. Auf dem einst
trostlosen Gelände der ehemaligen Malzwerkfabrik nahe dem Rheinufer beispielsweise
gedeiht eine Wildblumenwiese. Und auch Insektenhotels fehlen in Andernach nicht.
Vielerorts hält die Natur wieder Einzug in die Stadt. Mit ihr kehren längst vergessene
Wildpflanzen zurück wie die Kornblumen oder das zierliche leuchtend rote
Adonisröschen. Das steht auf der roten Liste und wächst eigentlich gar nicht in der
Stadt - mit Ausnahme von Andernach.
Außerdem sollten die vielen Blumenbeete pflegeleichter werden. Statt sie mehrfach im
Jahr neu zu bepflanzen, wachsen jetzt heimische Stauden wie Katzenminze, Taglilie und
essbarer Grünkohl. Auch vor dem Runden Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, stehen
die mehrjährigen Stauden in voller Pracht. Für die Pflege dieser Beete braucht die Stadt
nur noch ein Zehntel der früheren Kosten, 500 statt 5.000 Euro. Das meiste macht die
Natur selbst.
Pflanzen für die Zukunft
Die Andernacher erfreuen sich an dem neuen Stadtbild und sie haben ein Auge auf
"ihre" Gärten. Die anfängliche Sorge, dass die Gemüsebeete regelrecht geplündert
werden, erwies sich als unbegründet. Sogar der anfänglich befürchtete Vandalismus
blieb aus. Studien belegen, dass die Freiräume einer Stadt für die Wohnzufriedenheit
und die Lebensqualität der Menschen ganz entscheidend sind.
Andernach ist attraktiver geworden und geht damit auch einen wichtigen Weg in
Richtung Zukunft. "Für uns ist Stadtökologie ein ganz wesentliches Element für die
Nachhaltigkeit in dieser Stadt, das wir wirklich jetzt schon in die Zukunft investieren",
erklärt Lutz Kosack. "Denn, wenn wir wirklich einen Klimawandel bekommen und die
demografische Entwicklung so bleibt, werden wir immer mehr ältere Leute haben. Und
das Stadtklima wird schwieriger. Es wird wärmer, es wird drückender. Wenn wir jetzt
konsequent pflanzen, Gehölze pflanzen, Bäume pflanzen, werden wir in Zukunft ein
gesundes Stadtklima haben und damit auch die Lebenswertigkeit dieser Stadt
aufwerten."
Übrigens: Gleich im ersten Jahr, 2010, gewann Andernach die Goldmedaille bei dem
bundesweiten Wettbewerb "Entente Florale". Die Jury bewertet hierbei die
gemeinschaftliche Initiative von Verwaltung, Politik, Wirtschaft sowie der Bürger, den
städtischen Raum mit Grün und Blumen lebendig zu gestalten. In Andernach ist das
zweifellos gelungen.
Autorin: Andrea Wengel (SWR)
Dieser Text informiert über den Fernsehbeitrag vom 24.06.2012. Eventuelle spätere
Veränderungen des Sachverhaltes sind nicht berücksichtigt.
Quelle: http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-
              wissen/sendung/2012/andernach-100.html