Natascha Kampusch
Opfer kommt nicht zur Ruhe
WIEN/MZ. Als das Magazin "Der Spiegel" Ende Februar einen österreichischen Abgeordneten
mit der Aussage zitierte, dass die "Einzeltätertheorie nur schwer aufrechtzuerhalten" sei, war
Natascha Kampuschs Traum vom ganz normalen Leben wieder einmal ausgeträumt. Immerhin
präsidiert der zitierte Abgeordnete Werner Amon (ÖVP) einen geheimen Parlamentsausschuss,
der den spektakulärsten Entführungsfall der österreichischen Kriminalgeschichte noch einmal
durchleuchtet.
Läuft ein Mittäter frei herum?
Dem legitimen Anspruch des Opfers, fünfeinhalb Jahre nach der Flucht aus dem Kellerverlies
endlich in Ruhe gelassen zu werden, steht der Anspruch einer Gesellschaft auf lückenlose
Aufklärung eines Verbrechens gegenüber. Vor allem dann, wenn nicht ausgeschlossen werden
kann, dass Wolfgang Priklopil, der 1998 die zehnjährige Natascha in Wien entführt und
achteinhalb Jahre eingesperrt hat, Mittäter oder Mitwisser hatte.
Die einzige Tatzeugin, ein damals zwölfjähriges Mädchen, hat wiederholt bezeugt, am Tatort
zwei Männer gesehen zu haben. Obwohl auch das heute 24-jährige Opfer von der
Einzeltätertheorie überzeugt ist, hat es mit seinen Aussagen selbst Zweifel daran genährt.
"Anhaltspunkte für weitere Täter ergeben sich auch aus der Darstellung der Natascha
Kampusch", schrieb ein Staatsanwalt schon 2009 in einen Bericht. Wahrscheinlich wird der Fall
jetzt unter Einbeziehung ausländischer Kriminalexperten noch einmal neu aufgerollt.
Doch nicht alle nun wieder hochgekochten Geschichten lassen sich mit öffentlichem Interesse
rechtfertigen. Denn am medialen Boulevard geht es keineswegs nur um die Einzeltäterthese. Da
wird ungeniert mit Voyeurismus gespielt. Kampusch wurde vorgehalten, nicht alle intimen
Details ihres Martyriums öffentlich ausgebreitet zu haben. Die große Frage lässt sie bewusst
unbeantwortet: Hat Priklopil sie vergewaltigt oder nicht? Natascha Kampusch beharrt auf ihrem
Recht auf Privatsphäre. Und weil sie sich dieses Recht herausnimmt, wird schamlos spekuliert.
In dieser Woche unternahm Kampusch einmal mehr den Versuch, die Gerüchteküche
kaltzustellen. Nein, beteuerte sie in einem Interview, sie sei nie schwanger gewesen. Im
Kellerverlies war ein Buch über Babypflege gefunden worden. Daraus wurde konstruiert, dass
Priklopil oder ein Mittäter mit dem Opfer ein Kind gezeugt haben könnten.
Wie verbissen solche Theorien verfolgt werden, zeigt der Fall eines mittlerweile suspendierten
Wiener Polizisten, der sich ohne Auftrag in einer Schule von einem kleinen Mädchen eine DNA-
Probe erschleichen wollte, weil er in ihm Kampuschs Tochter vermutete. Es fällt schwer zu
glauben, dass der auf eigene Faust agierende Polizist nur zufällig FPÖ-Funktionär ist.
Populisten suchen Skandal
Die rechtspopulistische FPÖ versucht den Fall Kampusch schon seit Jahren mit
Verschwörungstheorien anzureichern, um einen ganz großen Skandal ausschlachten zu
können. Dazu passen auch die wiederkehrenden Gerüchte, Priklopil sei Teil eines
Kinderpornoringes gewesen, dem viele prominente Österreicher angehört haben sollen.
Kampusch, das Opfer, sieht sich nun allen Ernstes mit dem Verdacht konfrontiert, einen
Kinderpornoring zu decken. "Ich würde so was nie tun", beteuert sie. "Richtig schlecht" wird der
jungen Frau bei der Vorstellung, dass es Menschen gibt, die ihr tatsächlich unterstellen, sie
hätte ein Liebesverhältnis mit ihrem Peiniger gehabt. Kampusch fühlt sich ein zweites Mal
traumatisiert.
Quelle:  http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=
                 ksArtikel&aid=1330408984719
VON MANFRED MAURER, 07.03.12,