Die Gründe dafür, warum und wie es ihr möglich war, Priklopil trotz allem zu verzeihen,
beschreibt Natascha folgendermaßen:
“Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen,
wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. Irgendwo in den vielen Krimis
und Fernsehfilmen, die ich früher gesehen hatte, hatte ich aufgeschnappt, dass
Menschen böse werden, wenn sie von ihrer Mutter nicht geliebt werden und zu wenig
Nestwärme bekommen. Aus heutiger Sicht war es ein überlebenswichtiger
Schutzmechanismus, dass ich versuchte, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht
von Grund auf böse war, sondern der es erst im Laufe seines Lebens geworden war.
Das relativierte keineswegs die Tat an sich, aber es half mir, ihm zu verzeihen. Indem
ich mir einerseits vorstellte, dass er vielleicht als Waisenkind im Heim schreckliche
Erfahrungen gemacht hatte, unter denen er heute noch litt. Und indem ich mir
andererseits immer wieder sagte, dass er sicher auch seine guten Seiten hatte. Dass
er mir meine Wünsche erfüllte, mir Süßigkeiten brachte, mich versorgte. Ich denke,
dies war in meiner völligen Abhängigkeit die einzige Möglichkeit, die lebenswichtige
Beziehung zum Täter aufrechtzuerhalten. Wäre ich ihm ausschließlich mit Hass
begegnet, hätte mich dieser Hass so zerfressen, dass ich nicht mehr die Kraft gehabt
hätte, zu überleben. Weil ich in jenem Augenblick hinter der Maske des Täters den
kleinen, fehlgeleiteten und schwachen Menschen erkennen konnte, war ich in der
Lage, auf ihn zuzugehen.
Und es gab auch tatsächlich den Moment, in dem ich ihm das mitteilte. Ich sah ihn an
und sagte: “Ich verzeihe dir, weil jeder einmal Fehler macht.” Es war ein Schritt, der
manchen seltsam und krank vorkommen mag. Schließlich hatte mich sein “Fehler” die
Freiheit gekostet. Aber es war das einzig Richtige. Ich musste mit diesem Menschen
auskommen, sonst würde ich nicht überleben.
Ich habe trotzdem nie Vertrauen zu ihm gefasst, das war unmöglich. Aber ich habe
mich mit ihm arrangiert. Ich “tröstete” ihn wegen des Verbrechens, das er an mir
beging und appelierte zugleich an sein Gewissen, damit er es bereute und mich
zumindest gut behandelte. Er revanchierte sich, indem er mir phasenweise kleine
Wünsche erfüllte: eine Pferdezeitschrift, einen Stift, ein neues Buch. Manchmal
erklärter er mir gar: “Ich erfülle dir jeden Wunsch!”  Dann antwortete ich: “Wenn du
mir jeden Wunsch erfüllst, warum lässt du mich dann nicht frei? Ich vermisse meine
Eltern so.” Aber seine Antwort war immer die gleiche, und ich wusste sie schon:
Meine Eltern liebten mich nicht - und er würde mich niemals freilassen.“  (”3096
Tage”, S.123ff.)
In der letzten Phase, als die Gewalttätigkeiten immer massiver wurden, hielt Natascha nicht
nur die täglichen Mißhandlungen schriftlich fest, sondern sie versuchte sich auch selbst mit
“Durchhalteparolen” Mut zu machen - gleichzeitig ermahnte sie sich selbst immer wieder,
ihm jede Verletzung zu verzeihen  (”3096 Tage”, S.232ff.):
 “Nicht unterkriegen lassen, wenn er sagt, du bist zu blöd für alles.
  Nicht unterkriegen lassen, wenn er dich schlägt.
  Nichts darauf geben, wenn er sagt, du bist unfähig.
  Nichts darauf geben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben.
  Nicht reagieren, wenn er dir das Licht abdreht.
  Ihm alles verzeihen und nicht weiter böse sein.
  Stärker sein.
  Nicht aufgeben.
  Niemals, niemals aufgeben.”