Dazu schreibt Natascha Kampusch in ihrer Autobiographie folgendes:
“Am wenigsten verzieh man mir, dass ich den Täter nicht so verurteilte, wie es die
Öffentlichkeit erwartete. Man wollte von mir nicht hören, dass es kein absolutes
Böses gibt, kein klares Schwarz und Weiß. Sicher, der Täter hatte mir meine Jugend
genommen, mich eingesperrt und gequält - dorch er war die entscheidenden Jahre
zwischen meinem elften und meinem 19.Lebensjahr auch meine einzige
Bezugsperson gewesen. Ich hatte mich durch meine Flucht nicht nur von meinem
Peiniger befreit, ich habe auch einen Menschen verloren, der mir zwangsläufig nah
war. Aber Trauer, auch wenn sie schwer nachvollziehbar sein mag, gestand man mir
nicht zu. Sobald ich begann, ein etwas differenzierteres Bild vom Täter zu zeichnen,
verdrehte man die Augen und sah weg. Es berührt die Menschen unangenehm, wenn
ihre Kategorien von Gut und Böse ins Wanken geraten und sie damit konfrontiert
werden, dass auch das personifizierte Böse ein menschliches Antlitz hat. Seine
dunkle Seite ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, niemand kommt als Monster
auf die Welt. Wir alle werden durch unseren Kontakt mit der Welt, mit anderen
Menschen zu dem, was wir sind. Und damit tragen wir alle letztlich auch eine
Verantwortung für das, was in unseren Familien, in unserem Umfeld passiert. Sich
das einzugestehen ist nicht leicht. Es ist ungleich schwieriger, wenn einem jemand
den Spiegel vorhält, der dafür nicht vorgesehen ist. Ich habe mit meinen Äußerungen
einen wunden Punkt getroffen und mit meinen Versuchen, dem Menschen hinter der
Fassade des Peinigers und Saubermannes nachzuspüren, Unverständnis geerntet. Ich
habe mich nach meiner Befreiung sogar mit Wolfgang Priklopils Freund Holzapfel
getroffen, um über den Täter sprechen zu können. Weil ich verstehen wollte, warum
er zu dem geworden war, der mit das angetan hatte. Doch ich brach diese Versuche
schnell ab. Man gestand mir diese Form der Aufarbeitung nicht zu und verbrämte sie
mit dem Begriff des Stockholm-Syndroms.” (”3096 Tage”, S.281 ff)