Letzter Kampf in Sirt
Gaddafi verkroch sich im Abwasserkanal
Muammar al-Gaddafi ist tot, zwei Monate nach dem Fall von Tripolis
starb der Diktator durch die Kugeln von Revolutionären in seiner
Heimatstadt Sirt. In Armeekleidung und mit einer goldenen Pistole
bewaffnet, versteckte er sich in einem Abwasserkanal.
Tripolis - Am Ende seiner zweimonatigen Flucht trug Muammar al-Gaddafi die
Uniform seiner längst untergegangenen Armee. Glaubt man den feiernden
Rebellen in Sirt, der Heimatstadt des Despoten, versteckte Gaddafi sich am
Donnerstagmorgen zuletzt in einem Abwasserkanal, am Leib eine der beigen
Tarnuniformen, bewaffnet nur noch mit seiner goldenen Pistole. Man solle nicht
auf ihn schießen, soll er den Rebellen zugerufen haben, die ihn am Vormittag
entdeckten. Wenig später war der einstige Herrscher des Wüstenstaats tot.
Es sind grausame Beweisbilder, die wenige Stunden nach den ersten
Meldungen aus Sirt zumindest die Festnahme des Diktators endgültig
bestätigten. Verletzt, aber noch lebend wird Gaddafi blutverschmiert von
Milizionären auf einen Pick-Up gezerrt. Immer wieder halten die Männer den
Kopf in die Handykamera und brüllen religiöse Kampfrufe, Gaddafi gestikuliert
noch. Spätestens nach dem Auftauchen dieser Bilder bei arabischen TV-
Sendern gab es keinen Zweifel mehr, dass Gaddafi tatsächlich in der Hand der
Rebellen war.
Kurze Zeit später bestätigte die libysche Übergangsregierung den Tod
Gaddafis. Wie der Ex-Diktator genau ums Leben kam, war bis zum Abend nicht
klar, die Details blieben widersprüchlich. Sprecher des Übergangsrats
berichteten, Gaddafi sei Verletzungen erlegen, die er während eines
Feuergefechts erlitten habe. In Sirt selber präsentierte ein jugendlicher Rebell
eine goldene Pistole und behauptete, er habe Gaddafi erschossen.
Am Abend schließlich sagte der libysche Premier - teils unter Berufung auf den
gerichtsmedizinischen Bericht -, Gaddafi sei bei einem Schusswechsel zwischen
seinen eigenen Anhängern und Regierungstruppen durch einen Schuss in den
Kopf verwundet worden. Man habe ihn dann in ein Auto gebracht, um ihn aus
Sirt wegzuschaffen. Kurz vor dem Erreichen eines Hospitals sei er an dem
Kopfschuss gestorben.
Tod beim letzten Fluchtversuch 
Was sich am Morgen in Sirt abspielte, wird vielleicht nie ganz geklärt werden.
Aus Berichten von wenigen TV-Journalisten und Rebellen, die bei der Ergreifung
des Ex-Despoten dabei gewesen sein wollen, wurde Gaddafi beim letzten
Fluchtversuch getötet. Demnach versuchten Gaddafi und einige Getreue, nach
heftigen Angriffen auf die Stadt Sirt mit einem Konvoi zu flüchten.
Augenzeugen berichteten, dieser sei von Nato-Kampfjets attackiert worden. Die
Nato bestätigte den Angriff, konnte aber nicht sagen, ob sich Gaddafi in dem
Konvoi befand.
Kurz nach der Attacke, so jedenfalls die Rebellen, sei Gaddafi zu Fuß in den
Abwasserkanal geflohen und habe sich dort versteckt. Als die Kämpfer das
Versteck erreichten, sei zunächst einer seiner Bodyguards aus dem
Abwasserrohr gekommen und habe um Gnade für Gaddafi gebeten. Wenig
später zerrten die Rebellen den angeblich bereits durch Schüsse verletzten
Gaddafi aus seinem letzten Versteck. Diese Darstellung wird durch die Bilder
des blutenden Ex-Machthabers bestätigt.
Die verwackelten Bilder kurz nach der Festnahme zeigen eine Gruppe von
Rebellen, die Gaddafi umringen, einige von ihnen ziehen ihm an den Haaren
und schlagen auf Gaddafi ein. Zwar sind die Aufnahmen unscharf, trotzdem
kann man deutlich erkennen, dass Gaddafi plötzlich zusammensackt.
Möglicherweise hat ihn einer der Rebellen in dieser Situation getötet, jedenfalls
sind deutlich Schüsse zu hören.
"Ende der Tyrannei" 
Das Ende des Diktators markiert für Libyen einen historischen Tag. Nach 42
Jahren Diktatur, acht Monate nach dem Beginn der Revolution im Februar 2011
und zwei Monate nach dem Fall von Tripolis ist der Krieg gegen Gaddafi
endgültig vorbei. "Es ist das Ende der Tyrannei und der Diktatur", triumphierte
der Sprecher des Übergangsrats kurze Zeit später in Tripolis. Darauf habe
Libyen lange gewartet.
Der Tod des Diktators, der sich selbst stets als Revolutionär bezeichnete,
markiert für Libyen einen Wendepunkt. Bis zuletzt hatten die Rebellen trotz
ihrer Erfolge gegen die Gaddafi-Armee, trotz der Einnahme von Tripolis den
Bruder Führer noch gefürchtet. Aus dem Untergrund, so hieß es, könne Gaddafi
Getreue rekrutieren und eine Art Guerilla-Krieg gegen die neue Regierung von
Libyen führen. Noch am Tag seines Todes verlautete aus dem Übergangsrat,
dass eine kleine Armee von afrikanischen Söldnern unterwegs sei, um für
Gaddafi zu kämpfen.
Der Übergangsrat lieferte eine etwas andere Version, besser gesagt eine
Heldensaga des wohl größten Erfolgs der Rebellen. Demnach hätten die
Kämpfer ein Haus in Sirt umstellt, in dem sich Gaddafi versteckt hielt. Bei
einem Feuergefecht, so behaupten es mehrere Offizielle, sei der Ex-Diktator
schwer verletzt worden. Obwohl man ihn per Ambulanz in ein Krankenhaus
bringen wollte, sei er seinen Verletzungen erlegen. Dass diese Darstellung
kaum zu den Bildern des toten Ex-Despoten auf dem Pick-up passen will, störte
in Tripolis wohl kaum jemanden.
Für die Rebellen ist der eigene Anteil am Tod Gaddafis extrem wichtig. Dass sie
es selbst waren und nicht etwa die Nato, die den verhassten Herrscher am
Ende zur Strecke brachten, wird als Legende in die Geschichte Libyens
eingehen.
Auch für den Westen, allen voran die Nato-Staaten, bedeutet der Tod Gaddafis
den letzten Schritt zum Ende des Kriegs. Schon seit Wochen wird innerhalb des
Bündnisses diskutiert, ob man die Mission über Libyen nicht abbrechen solle -
schließlich war Tripolis befreit. Die USA aber wehrten sich gegen ein vorzeitiges
Ende der Luftüberwachung. Solange Sirt nicht befreit sei, so eine
Kernforderung aus Washington, sollten die Nato-Bomber in Stellung bleiben.
Nun könnte die Nato ihre Mission schon in einigen Tagen beenden, hieß es aus
dem Hauptquartier, am Freitag wird es darüber erste Beratungen geben.
von Matthias Gebauer und Fabian Reinbold 
Quelle: Spiegel online, 20.10.2011
           http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,793044,00.html
20.10.2011